Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.ob er mir gleichgültig wäre«, und sie legte das Gesicht ihrer Schwester an ihre Wange, »aber das war zu schwer, und du sprachst immer eifrig für ihn. Ich bemühte mich, dir meinen Entschluß zu gestehen, doch du wolltest mich nie hören – nie verstehen. Die Zeit seiner Rückkehr kam herbei. Ich fühlte, daß ich handeln mußte, ehe dieser tägliche Verkehr neu auflebte. Ich fühlte, daß ein großer Schmerz in diesem Augenblick uns alle langen Leiden ersparen könnte. Ich wußte, daß, wenn ich vor ihm flüchtete, schließlich das eintreten müßte, was eingetreten ist, und was uns beide so glücklich gemacht hat, Grace! Ich schrieb an Tante Martha und bat sie um Aufnahme in ihrem Heim: ich sagte ihr damals nicht die ganze Wahrheit, aber sie erfüllte mir gern meine Bitte. Während meine Entschlußkraft noch mit mir und meiner Liebe zu Euch und dem Vaterhaus um Entscheidung rang, ward Mr. Warden durch einen Unglücksfall eine Zeitlang unser Hausgenosse.«
»Ich habe das in letzter Zeit zuweilen gefürchtet,« rief ihre Schwester aus und wurde totenblaß. »Du liebtest ihn nie und hast aus Entsagung geheiratet!«
»Er war damals«, sagte Marion und zog ihre Schwester näher zu sich heran, »im Begriff, heimlich ins Ausland zu fliehen. Er schrieb an mich, offenbarte mir seine Verhältnisse und Aussichten und bot mir seine Hand an. Er erklärte mir, er habe empfunden, daß ich Alfreds Rückkehr nicht freudig entgegensähe. Ich glaube, er war der Ansicht, mein Herz hätte keine Neigung zu diesem Bündnis, oder ich hätte ihn wohl früher geliebt, liebe ihn indessen nicht mehr; oder ich suchte Gleichgültigkeit zu verbergen, indem ich mich gleichgültig stellte – kurz, ich weiß es nicht. Aber ich wollte, daß Alfred glauben sollte, ich sei ganz für ihn verloren. Verstehst du mich, geliebte Schwester?«
Ihre Schwester blickte ihr aufmerksam ins Gesicht. Sie schien in Unklarheit zu sein.
»Ich traf mich mit Mr. Warden und vertraute mich seiner Ehre an; ich offenbarte ihm mein Geheimnis am Abend vor seiner und meiner Flucht. Er hat es treu bewahrt. Verstehst du mich, Liebste?«
Grace schaute verwirrt um sich. Sie schien es kaum zu hören.
»Geliebte Schwester!« sagte Marion, »sammle deine Gedanken für einen Augenblick: höre mich. Blicke mich nicht so seltsam an. Es gibt Länder, wo die Menschen, die eine widerspenstige Leidenschaft unterdrücken oder einen tiefen Schmerz ihrer Brust heilen wollen, sich in immerwährende Einsamkeit zurückziehen und für ewig der Welt und deren Gefühlen den Abschied geben. Wenn Frauen dies tun, so nehmen sie den Namen an, der mir durch dich so lieb ist, und nennen sich Schwestern. Aber es gibt auch Schwestern, Grace, die unter Gottes freiem Himmel und im geschäftigen Menschengewühl, wo sie möglichst bemüht sind, Segen zu spenden und Gutes zu tun, ein Gleiches lernen. Mit noch unverbrauchtem und jugendlichem Herzen und noch empfänglich für Glück können sie sagen: der Kampf ist langst vorbei, der Sieg längst gewonnen. Und eine solche Schwester bin ich! Begreifst du mich jetzt?«
Aber noch immer sah diese Marion starr an und antwortete nicht.
»O Grace, geliebte Grace«, sagte sie und schmiegte sich noch inniger an die Brust, von der sie so lange getrennt gewesen, »wenn du nicht glücklich als Gattin und Mutter wärest – wenn ich keine kleine Namensschwester hier fände – wenn Alfred, mein lieber Bruder, nicht dein zärtlicher Gatte wäre, wo sollte ich dann die Seligkeit finden, die mir jetzt eigen ist? Wie ich das Haus verlassen habe, so kehre ich zurück. Mein Herz hat keine andere Liebe gekannt, meine Hand ist noch immer frei, ich bin noch immer deine jungfräuliche Schwester, unverheiratet, unverlobt: deine alte, liebe Marion, in deren Herzen du allein, ohne Nebenbuhler hausest, Grace!«
Sie begriff sie jetzt. Die Anspannung in ihrem Antlitz löste sich. Ihre Rührung machte sich in hellem Schluchzen Luft. Unter Tränen fiel sie ihrer Schwester um den Hals und streichelte sie wie ein Kind.
Als sie sich wieder etwas gefunden hatten, sahen sie den Doktor und Tante Martha, seine Schwester, und Alfred vor sich stehen.
»Das ist ein schlimmer Tag für mich«, sagte Tante Martha, unter Tränen lächelnd, als sie ihre Nichten umarmte; »denn indem ich euch alle glücklich gemacht habe, verliere ich eine liebe Tochter. Was vermögt ihr mir an Stelle meiner Marion zu geben?«
»Einen bekehrten Bruder«, sagte der Doktor.
»Das«, versetzte Tante Martha, »ist wenigstens etwas in einer solchen Narrenskomödie wie –«
»Ich bitte dich«, sagte der Doktor reuevoll.
»Na, ich will es auf sich beruhen lassen«, versetzte die Tante zur Antwort. »Aber ich fahre wirklich schlecht dabei. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll ohne meine Marion, nachdem wir ein Halbdutzend Jahre nebeneinander gelebt haben.«
»Du wirst zu mir ziehen müssen«, sagte der Doktor. »Wir zanken uns bestimmt nicht mehr.«
»Oder heiraten, Tante«, riet Alfred.
»Ich glaube wirklich«, erwiderte die Dame, »es wäre nicht übel, wenn ich Michael Warden aufs Korn nähme, der in jeder Hinsicht gebessert heimgekehrt sein soll. Aber weil ich ihn schon als Jungen kannte und damals auch nicht mehr sehr jung war, so möchte er mich am Ende abweisen. Daher will ich lieber zu Marion ziehen, wenn sie heiratet (was doch nicht lange währen kann), und bis dahin für mich wohnen. Was meinst du dazu, Bruder?«
»Ich hätte große Lust zu behaupten, daß es eine durch und durch erheiternde Welt ist, die gar nichts Ernsthaftes hat«, entgegnete der Doktor.
»Du könntest zwanzig Belege darüber protokollieren, Anthony«, meinte seine Schwester; »und dennoch würde dir das niemand, wenn er uns sähe, glauben.«
»Es ist eine Welt voll Seelengüte«, sagte der Doktor und umarmte beide Töchter zugleich – denn er vermochte nicht die Schwestern voneinander zu lösen; »und eine ernste Welt mit all ihren Dummheiten – selbst mit einer, die groß genug war, den ganzen Erdball zu überdecken; eine Welt, auf der die Sonne nie aufgeht, ohne auf Tausende von unblutigen Kämpfen niederzuschauen, die die Leiden und Verbrechen der Schlachtfelder einigermaßen wieder wettmachen; eine Welt, über die wir nicht spotten dürfen; denn sie ist voll von Geheimnissen, und nur ihr Schöpfer weiß, was hinter der Außenfläche seines ärmlichsten Nachbildes verborgen liegt!«
Ich würde euch keinen Gefallen erweisen, wenn ich mit derber Hand die Freude dieser lange getrennten und jetzt wieder vereinten Familie analysieren wollte. Darum wollen wir den Doktor nicht in der Erinnerung an seinen Schmerz begleiten, den er nach der Flucht Marions empfunden hatte. Wir wollen auch nicht berichten, wie ernst er die Welt gefühlt hatte, zu der eine tief eingewurzelte Neigung das Erbgut aller Menschen ist; auch nicht, wie ihn eine solche Kleinigkeit, wie der Fehler bei einer einzigen kleinen Ziffer in der großen Narrenrechnung, zu Boden gedrückt hatte. Auch nicht, wie ihm seine Schwester schon lange aus Mitgefühl die Wahrheit allgemach enthüllt, ihm das Herz der freiwillig verbannten Tochter entdeckt und ihn zu ihrem Herzen geleitet hatte.
Wir erzählen auch nicht, wie Alfred Heathfield in dem eben verflossenen Jahre die Wahrheit erfahren; und wie Marion ihn wiedergesehen und ihm als ihrem Bruder gelobt hatte, an dem Abend ihres Geburtstages Grace mit eigenem Mund alles zu offenbaren.
»Ich bitte um Verzeihung, Doktor«, sagte Mr. Snitchey, in den Garten lugend, »darf man stören?«
Ohne eine Antwort zu erwarten, ging er geradeswegs auf Marion zu und küßte ihr in großer Freude die Hand.
»Wenn Mr. Craggs noch am Leben wäre, mein teures Fräulein Marion«, sagte Mr. Snitchey, »so würde er mit großer Teilnahme dem heutigen Tag folgen. Er würde vielleicht auf den Gedanken kommen, Mr. Alfred, daß das Leben uns nicht allzuleicht gemacht wird; daß es aber jede kleine Erleichterung, die wir ihm zu verleihen vermögend wären, wohl vertragen könnte; indessen Mr. Craggs war ein Mann, der auch vernünftig mit sich reden ließ. Wenn er jetzt der Überzeugung fähig wäre – doch das ist Schwäche. Liebe Frau«, auf diesen Ruf trat die gemeinte Dame in die Tür, »du bist bei alten Bekannten.«
Nachdem Mrs. Snitchey ihren Glückwunsch ausgesprochen, nahm sie ihren Gatten zur Seite.
»Nur eine Sekunde, Mr. Snitchey«, sagte die Lady. »Es ist nicht meine Art, Toten Böses nachzusagen.«
»Nein,