Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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zu überlegen, wie sie in Bewegung gesetzt würden und was für Klöppel daran schlügen. Vielleicht war er um so neugieriger in betreff dieser Glocken, weil sie Vergleichungspunkte mit ihm darboten. Sie hingen dort bei jedem Wetter, dem Wind und Wetter ausgesetzt; sie sahen nur das Äußere dieser Häuser; sie kamen nie den glänzenden Feuern zu nahe, welche die Fenster beschienen oder aus den Schornsteinen hervorschlugen; sie hatten keinen Teil an all den guten Dingen, welche durch die Türen von der Straße oder durch die Gitter der Küchenfenster verschwenderischen Köchinnen gereicht wurden. An vielen Fenstern zeigten sich Gesichter und verschwanden wieder: manchmal hübsche, junge, liebliche Gesichter, manchmal das Gegenteil; Toby aber (obwohl er oft über diese Dinge nachdachte, wenn er müßig auf der Straße stand) wußte ebensowenig wie die Glocken, woher sie kamen oder wohin sie gingen, oder ob sie, wenn sie die Lippen bewegten, im ganzen Jahre ein freundliches Wort über ihn sagten.

      Toby war kein Kasuist – wenigstens soviel er wußte – und ich behaupte nicht, daß, als er zuerst Zuneigung zu den Glocken faßte und aus einer zuerst nur flüchtigen Bekanntschaft nach und nach eine zärtlichere und intimere Zuneigung wurde, er sich von allem genau Rechenschaft ablegte, oder seine Gedanken buchstäblich Revue passieren ließ. Das aber will ich sagen und sag’ ich, daß so, wie Tobys leibliche Funktionen, z. B. seine Verdauungswerkzeuge, durch ihre eigene Klugheit und mittels einer großen Anzahl von Operationen, die ihm alle durchaus unbekannt waren, und deren Kenntnis ihn in sehr großes Erstaunen gesetzt haben würde, zu einem gewissen Ziele kamen; so setzten seine geistigen Fähigkeiten ohne sein Wissen oder Zutun alle diese Räder und Federn nebst tausend andern in Bewegung, als sie an seiner Neigung zu den Glocken arbeiteten.

      Ja, wenn ich gesagt hätte: an seiner Liebe, so würde ich das Wort nicht widerrufen, wiewohl es seine sehr komplizierten Empfindungen nicht ausgedrückt haben würde. Er war doch eben nur ein schlichter Mann, aber er bekleidete sie doch mit einem seltsamen feierlichen Charakter. Die Glocken waren so geheimnisvoll, man hörte sie oft und sah sie nie; sie waren so hoch oben, so weit entfernt, so voll von tiefer kräftiger Melodie, daß er sie mit einer Art Scheu anblickte; und bisweilen, wenn er zu den dunklen Bogenfenstern im Turme hinauf sah, erwartete er halb und halb, daß ihm etwas, das keine Glocke und doch dasjenige wäre, was er so oft im Glockengeläut klingen hörte, ihm ein Zeichen geben würde. Dessenungeachtet sprach Toby mit Entrüstung von einem raunenden Gerücht, daß es bei den Glocken spuke, und dies deutete die Möglichkeit an, daß sie mit irgend etwas Bösem in Verbindung ständen. Kurz, sie klangen ihm sehr oft in die Ohren und gingen ihm sehr oft durch die Gedanken, aber immer in bestem Sinne, und sehr oft bekam er sogar einen steifen Hals, wenn er mit offenem Munde nach dem Turme gaffte, in dem sie hingen, daß er nachher einmal oder zweimal mehr Trab laufen mußte, um seinen Hals wieder in Ordnung zu bringen.

      Gerade dies tat er an einem kalten Tage, als der letzte schläfrige Klang der zwölften Stunde wie eine melodische Riesenbiene, keineswegs aber wie eine geschäftige Biene, durch den Turm summte.

      »Ah, Mittagszeit!« sagte Toby und trabte vor der Kirche auf und ab. »Ah!«

      Tobys Nase war sehr rot und seine Augenlider waren sehr rot, und er zwinkerte sehr viel und zog die Schultern sehr hoch an die Ohren, und seine Beine waren sehr kalt; kurz, er stand offenbar auf der Gefrierseite der Kälte.

      »Ah, Mittagszeit!« wiederholte Toby, indem er seinen rechten Handschuh wie einen kleinen Boxerhandschuh brauchte und seine Brust dafür züchtigte, daß sie kalt war. »Ah–h–h–h!«

      Darauf trabte er ein oder zwei Minuten schweigend auf und ab.

      »Da ist nichts«, begann Toby von neuem – doch nun hielt er auf einmal inne und befühlte mit einem Gesicht, das großes Interesse verriet, und mit einiger Unruhe sorgfältig seine Nase ihrer ganzen Länge nach. Er war bald damit fertig, denn es war keine große Sache von einer Nase.

      »Ich dachte, sie wäre fort«, sagt Toby und trabte weiter, »‘s ist aber alles in Ordnung. Ich könnte ihr freilich keinen Vorwurf machen, wenn sie fort wäre; sie hat harten Dienst bei diesem kalten Wetter und sehr wenig zu erwarten: denn ich schnupfe nicht. Sie hat ihr gut Teil Pflege, das arme Geschöpf, im besten Falle; denn wenn sie einmal etwas Gutes riecht (was nicht so oft passiert), so geschieht dies gewöhnlich aus fremder Leut’ Topf auf dem Wege vom Herd.«

      Dieser Gedanke erinnerte ihn an den anderen, den er unvollendet gelassen hatte.

      »Nichts ist regelmäßiger«, sagte Toby, »als die Wiederkehr der Mittagszeit und nichts unregelmäßiger als die Wiederkehr der Mittagsmahlzeit. Das ist der große Unterschied zwischen beiden. Es hat mich lange Zeit gekostet, dies herauszufinden. Ich möchte wohl wissen, ob es für einen Gentleman der Mühe wert ist, diese Bemerkung an eine Zeitung zu verkaufen; oder an das Parlament!«

      Toby scherzte bloß, denn er schüttelte ernsthaft den Kopf in Selbstmißtrauen.

      »Die Zeitungen«, fuhr Toby fort, »sind doch nur voll von Bemerkungen, alle wie sie da sind; und so ist’s mit dem Parlament. Hier ist das letzte Wochenblatt«, und er nahm ein sehr schmutziges Blatt aus der Tasche und hielt es auf Armeslänge von sich weg; »voll von Bemerkungen! voll von Bemerkungen! Mir machte das Zeitunglesen so ein Vergnügen wie nur irgend jemand«, sagte Toby langsam, indem er es ein wenig kleiner faltete und es wieder in die Tasche steckte; »aber jetzt lese ich eine Zeitung mit Widerwillen. Sie erregt mir beinahe Furcht. Ich weiß nicht, was aus uns armen Leuten werden soll. Gott gebe, daß es uns im nächsten neuen Jahre besser gehen möge!«

      »Vater, Vater!« rief eine liebliche Stimme ganz in seiner Nähe.

      Aber Toby hörte sie nicht und fuhr fort rückwärts und vorwärts zu traben, nachdenklich und mit sich selber sprechend.

      »Es scheint, wir können nicht den rechten Weg gehen oder das Rechte tun, oder uns Recht verschaffen«, sagte Toby. »Ich für meine Person ging nicht viel zur Schule, als ich klein war, und ich kann mir nicht klar machen, ob wir auf der Erde etwas zu schaffen haben oder nicht. Manchmal denke ich, wir müssen auf der Erde doch ein wenig zu tun haben, und andere Male denke ich wieder, wir müssen bloße Eindringlinge sein. Bisweilen werde ich so sehr irre, daß ich nicht einmal imstande bin, herauszubekommen, ob irgend etwas Gutes an uns ist oder ob wir von Natur böse sind. Es scheint, als ob wir schreckliche Dinge tun; es scheint, als ob wir große Müh’ und Arbeit machen; immer beklagt man sich über uns und ist gegen uns auf der Hut. Auf die eine oder die andere Weise füllen wir die Blätter. Von einem neuen Jahre zu sprechen!« sagte Toby niedergeschlagen. »Ich kann so viel ertragen wie ein anderer größtenteils und mehr als die meisten, denn ich bin stark wie ein Löwe, und das sind wir nicht alle; aber angenommen, es wäre wirklich so, und wir hätten kein Recht auf ein neues Jahr – angenommen, wir drängten uns wirklich nur auf –«

      »Heda, Vater, Vater!« rief die liebliche Stimme wieder. Diesmal hörte es Toby, erschrak, stand still und fand sich, indem er seinen Blick, den er in die Entfernung geworfen hatte, als wenn er im Herzen des neuen Jahres Aufklärung suchen wollte, auf die Nähe beschränkte, seiner Tochter gegenüber und blickte ihr tief in die Augen, in die eine Welt blicken konnte, ohne daß ihre Tiefe ergründet werden konnte. Schwarze Augen, welche die Augen zurückstrahlten, die in sie hineinsahen; nicht aufblitzend, außer wenn ihre Besitzerin es gerade wollte, sondern mit klarem, ruhigem, ehrlichem, beständigem Strahl verwandt dem Licht, welches der Himmel zum Sein berufen. Schöne, treue Augen, die von Hoffnung glänzten, von junger, schöner Hoffnung; so viel Hoffnung sprach daraus, die so kräftig und strahlend war trotz der zwanzig Jahre voll Arbeit und Armut, auf die sie bereits zurückblickten, daß sie für Toby Veck zu einer Stimme wurden und sagten: »Ich denke, wir haben auf Erden etwas zu schaffen – ein klein wenig!«

      Trotty küßte die Lippen, die zu den Augen gehörten, und drückte seine Hände an das blühende Gesichtchen.

      »Nun, Meg«, sagte Trotty, »was gibt’s? Ich erwartete dich heute nicht, Meg.«

      »Ich glaubte auch nicht, daß ich kommen würde, Vater«, erwiderte das Mädchen, nickte mit dem Kopfe und lächelte. »Doch da bin ich! und nicht allein, nicht allein!«

      »Du willst doch nicht sagen«, erwiderte Trotty und blickte neugierig nach einem verdeckten Korbe, den sie in der Hand trug, »daß du –«


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