Lebenssplitter. Dietmar Wolfgang Pritzlaff

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Lebenssplitter - Dietmar Wolfgang Pritzlaff


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Du stehst neben ihm und hast erst eine Freundin gehabt und diese noch nicht einmal aufs Kreuz legen können. Und die "dumme" Pute hat diese Geschichte auch noch rumerzählt und auch der stramme Max weiß inzwischen, wie es um Dich steht und der lacht nur über Dich.

      Dann könnte es natürlich auch noch Freddy sein. Freddy hat schon immer ein großes Maul gehabt, und Dir schon oft eins übergebraten. Er ist der Schläger der Schule gewesen und alle Mädchen waren hinter ihm her. Und Du trautest Dich so gar nicht mehr aus Dir heraus. Warst lieber ganz ruhig und still. Bloß nicht auffallen. Hast Dich ganz klein gemacht und Dich dann verkrochen oder warst Du Freddy sogar dienlich, nur damit er Dich in Ruhe lässt?

      Es sind meist diese verdammten Urängste der Feiglinge, die oft auf zu viel Gefühlsleben aufbauen und das Gefühl der Feigheit keimen lassen.

      Die Feiglinge schlagen sich nicht. Können die gar nicht. Es steckt einfach nicht in ihnen drin. Die können die Arme nicht erheben, höchstens zum Schutz, aber zuschlagen – nie. Sie greifen nicht ein. Nicht körperlich. Sie können nur verbal zurückschlagen.

      Es gibt tausend Arten feige zu sein. Und in der nachfolgenden Geschichte wirst Du einem Feigling begegnen der einige Arten der Feigheit erlebt hat.

      Eine wirklich jammervolle, mitleiderregende und zu tränenrührende Geschichte. Die Geschichte von einem Ober-ober-ober-Feigling. Einem einfachen und richtig netten Menschen, aber eben feige.

      Sein Name war Dieter. (Das sagt doch wohl alles!) Er konnte nicht schlicht und einfach, kurz und knapp nur Klaus heißen. Nein Dieter war sein Name und dieser verwandelt sich leicht in den Kosenamen Didi. Bei Namen wie Michael oder Ullrich ist die Verniedlichung ja fast schon vorprogrammiert. Aus Michael wird Michi und aus Ulrich wird Ulli. Genauso formen sich aus Elisabeth leicht die klangvollen Kosungen wie Ellie, Lissi oder Betti und aus Dieter wird eben Didi. Ganz klar. Aber es gibt noch etwas, das auf den D-Namen lastet, und zwar der Anfangsbuchstabe, das große D. Allen D-Namen voran steht Detlef an erster Stelle der Namen, die sofort in eine Richtung der Sexualpraktiken eingestuft werden. Detlef wird nicht nur in die Kosung Dete verwandelt, sondern erhält die besondere Note in der weichen, gekünstelten und gezogenen Sprechweise. So wird schnell ein langes Deeeetleeeef aus Detlef. Die vielen Sprüchlein einer ganzen Generation in den siebziger Jahren mussten sich die Deeeetleeeefs gefallen lassen. So zum Beispiel: "Mein Name ist Deeeetleeef und wie geht deine Hose auf?", oder: "Mein Name ist Deeeetleeeef, mit weichem D wie Damentoilette". Diesen Damentoilettentouch bekamen nicht nur die Detlefs zu spüren, sondern auch die Dieters. So auch unser Dieter.

      Dieter hätte aber auch Egon oder Emil heißen können, das spielte schon gar keine Rolle mehr, denn es war die Art wie er aufwuchs, mit wem er sich abgab, zu wem er sich hingezogen fühlte, die ihm schon früh die Spitznamen Muttersöhnchen und Weiberheld (= abfällige Betitulierung von Jungen über Jungen die mit Mädchen spielen, obwohl jeder weiß, dass Jungen normalerweise nur mit Jungen zu spielen haben), einbrachten.

      Man hatte ihm sogar schon einige Male gesagt, dass er zu schön sei. Zu schön im Gesicht. Zu schön für einen Jungen, einen Mann oder Kerl. Bekannte sagten sogar direkt, dass so was Hübsches bestimmt ein Mädchen sei. So bekam er also auch desöfteren das "Mädchen" um die Ohren gehauen. Als Schimpfwort sozusagen. Irgendwie war Dieter ja stolz darauf als "schön" zu gelten und es auch zu sein. Aber in der nächsten Minute schämte er sich gleich wieder dafür.

      Betrachten wir uns jetzt Dieters Werdegang einmal von Anfang an. Der kleine Dieter, zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr, war jähzornig und schrie oftmals am Tag wie am Spieß durch die kleine Wohnung nach seiner Mama, um sich, besonders auch bei seinen zwei älteren Schwestern, durchzusetzen.

      In den Kindergarten wollte er nicht. Seine Mutter schliff ihn hinter sich her. Jeden Morgen das gleiche Theater. Er wollte nicht und sollte doch. Auf dem ganzen Weg in den Kindergarten weinte, brüllte und jammerte er und bettelte um Gnade. Seine Mutter fand aber Kindergärten damals noch sehr nützlich, für das Leben schulend und gewinnbringend für das Kind, so dass sie mehrere Wochen diese Mühen auf sich nahm und das wimmernde Kind in den Kindergarten schleppte.

      War Dieter erst einmal im Kindergarten mit den anderen Kindern zusammen, beruhigte er sich einigermaßen schnell und spielte dann meist in einer sogenannten Puppenecke.

      Natürlich gab es da Puppen und Puppenhäuschen, Puppengeschirr und Puppenkleidchen, Puppenmöbel, Puppenkämme und Puppenbesteck, und selbstverständlich spielten nur kleine Mädchen in der Puppenecke. Die Jungen spielten mit Autos oder Bauklötzen. Ganz so wie es "normalerweise" sein muss. (Muss?)

      Die Mädchen freuten sich immer auf Dieter, da konnten sie endlich Vater-Mutter-Kind spielen. Dieter jedenfalls spielte wie zuhause mit seinen Schwestern das Spiel in der Puppenecke mit. Stundenlang, ganz lieb und zurückgezogen, mit den Puppen und mit den (anderen) Mädchen. Die Kindergärtnerin wunderte sich zwar darüber, ließ es aber zu.

      Dieter liebte die Freiheit und spielte am allerliebsten mit den Mädchen auf der Straße oder in nahegelegenen Wäldern. Häuser standen damals nur wenige links und rechts der Straße. Was heißt Straße, eigentlich war es mehr ein Feldweg, holprig und übersät mit Schlaglöchern. Bürgersteige gab es anfangs noch nicht. Wozu auch? Höchstens ein, zwei Autos am Tag befuhren den Weg. Nicht jeder konnte sich damals in den sechziger Jahren ein Auto leisten.

      Es gab Schrebergärten die (wie sollte es anders sein) natürlich mit Zäunen abgesperrt waren, die die Kinder aber immer zu überklettern oder zu durchbrechen wussten. Eine Wiese, die Schäfchenwiese, sogenannt, weil auf ihr im Sommer immer Schafe angepflockt weideten und wie gesagt, die frischen Wälder ringsumher luden zum Spielen und Verweilen ein.

      Die Kiefer-, Buchen-, Tannen- und Fichtenwälder waren nahe und ließen sich auf abenteuerliche Weise durchstreifen und erforschen.

      Heute sieht dort alles ganz anders aus. Es gibt keine Schäfchenwiese und auch keine Schrebergärten mehr. Dafür aber Bürgersteige und eine echte Straße mit Asphalt gedeckt. Parkplätze, Einstellplätze und hohe Zäune um die kleinen Vorgärten der erbauten Häuser. Dafür musste der Wald weichen und weicht Jahr für Jahr noch immer weiteren Hausbauten.

      Zurück zu Dieter. Dieter hatte mit seinem Geschrei und Geplärr seine Mutter davon überzeugt, dass das Gefängnis des Kindergartens wirklich nicht der richtige Ort zum Spielen war und so nahm sie den armen Kleinen wieder aus dem Kindergartendasein heraus und gab ihn der freien Welt zurück.

      Nach dieser abscheulichen Kindergartenzeit spielte also Dieter wieder in freier Wildbahn und wieder mit - Mädchen. Das kam daher, dass es fast nur Mädchen in dieser Straße gab. Seine allerliebste Sandkastenfreundin war Claudia. Sie brauchte nicht in irgendeinen Kindergarten, sei er katholischer oder evangelischer Art. Claudias Eltern waren neuapostolisch und für neuapostolische Kinder gab es keine neuapostolischen Kindergärten. Sie spielte in ihrem eigenen Garten hinter dem Haus.

      Dieters Eltern wohnten (und wohnen noch heute) in einem Mietshaus. Claudias Eltern hingegen besaßen ihr eigenes Haus, direkt gegenüber Dieters Kinderstube, mit zwei Einliegerwohnungen, die sie vermieteten. Zu dem Haus gehörte noch ein Garten mit Rosenbeet, Wiese und Terrasse. Obstbäume, Johannisbeer- und Stachelbeersträucher rundeten das Bild des kleinen aber feinen Paradieses ab, in dem Claudia und Dieter spielten. Natürlich durfte Dieter nur ins Paradies kommen, wenn er auch ganz lieb zu Claudia war und keinen Streit vom Zaun brach. Denn manchmal ging es mit Dieter durch und dann kehrte er plötzlich die winzig kleine Männlichkeit, die auch irgendwo in ihm steckte, heraus. Aber nur vor Mädchen. Wenn Dieter aber ganz brav, lieb und nett war, gab es hin und wieder sogar selbstgemachten Johannisbeersaft von Claudias Mutter zu trinken. Das waren für Dieter die schönsten Augenblicke in seinem noch so jungen Leben. Es war ihm fast wie Weihnachten und Ostern an einem Tag, weil es diesen besonderen, köstlichen Fruchtsaft nicht alle Tage gab. Und Dieters Eltern mussten ja auch mangels Geldmasse an vielem sparen und hatten gar nicht die Möglichkeiten den kleinen Dieter mit solchen Köstlichkeiten zu verwöhnen.

      Claudia hatte einen Bruder der, zwar nur zwei Jahre älter als Claudia und Dieter, sich aber meist zu älteren Jungen auf anderen Straßen hingezogen fühlte und nur selten die Spiele der "Kleinen" mit seiner Anwesenheit bereicherte. Noch dazu war er sehr sportlich und in einem Schwimmverein


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