Lebenssplitter. Dietmar Wolfgang Pritzlaff

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Lebenssplitter - Dietmar Wolfgang Pritzlaff


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Familien in die Häuser auf unserer Straße und bereicherten, aber störten auch die kleine Spielgruppe von Claudia und Dieter. Da waren noch Regina und deren Schwester Kerstin. Beate, Reginas Cousine, ihre Schwester Sabine und ihr kleiner Bruder Martin, mit dem man noch so gar nichts anfangen konnte. Später gesellten sich noch eine Annette und eine Sandra dazu.

      Du siehst also, Dieter blieb gar nichts anderes übrig als sich mit den Mädchen gut zu stehen. Sie waren immerhin in der Überzahl.

      Wann begann Dieters Feigheit? War er schon immer feige?

      Aus der Vorschulzeit ist eine Begebenheit zu berichten, die Dieter als erstes großes Feigheits-Ereignis in sein Feigheitsregister, aufgenommen hat. Die Geschichte spielte sich in einem kalten Winter ab. Die Schäfchenwiese lag unter einer dicken Schneedecke begraben. Claudia und Dieter hatten sich eines schönen Morgens, gleich nach dem Frühstück zusammengefunden, um gemeinsam Schneemänner und Schneehäuser zu bauen. Der Schnee nicht zu feucht, nicht zu pulvrig, schrie geradezu nach der Verbauung, und schon standen die beiden Kinder mitten in den Schneemassen und rollten kleine Schneebälle zu riesigen Schneekugeln, um diese aufeinanderzutürmen und schneemenschlich zu verzieren. Dann kam eine neue Idee ins Spiel und es wurden noch mehr Kugeln gerollt, zu einem großen Kreis angeordnet und die Kugelschichten nacheinander aufeinander gebaut, sollten mal ein Haus, eine Art Iglu werden. Aber kurz vor der Vollendung sahen die beiden Kinder plötzlich zwei viel ältere Jungen über die Wiese auf sich zukommen. Schon von Weitem verhöhnten die großen Jungen die Bauwerke der Kleinen mit sichtlichem Vergnügen. In Dieter stieg eine innere Unruhe auf. Wo waren seine Eltern die sich jetzt schützend vor ihn stellen konnten? Wo waren seine älteren Schwestern die helfen konnten?

      Hier war nur Claudia, und die war genauso klein wie Dieter. Aber sie bewies Mut. Sie ging in Abwehrstellung, Dieter wollte es ihr gleichtun, jedoch: Es ging einfach nicht. Er konnte nicht aus sich heraus, konnte nicht über seinen eigenen Schatten springen, hatte keinen Mut. Dachte auch, einem Mädchen werden die Lümmels schon nichts tun. Sie taten dem Mädchen auch nichts, nichts Körperliches. Die beiden Bösewichte zerstörten die großen Schneekugeln, hauten dem Schneemann eins auf die Nase, stürzten ihn unter lautem Gejohle um und zertrampelten ihn anschließend mit Genuss. Claudia versuchte die großen Jungen wegzudrängen. Sie versuchte es jedenfalls, wurde aber immer ärgerlicher, zorniger, wütender und hatte alsbald schon Tränen im Gesicht. Dieter stand nur da und sah verängstigt zu wie die ganze Kinderarbeit zunichte gemacht wurde. Er starrte wie angewurzelt, mit großen Augen in die weißen Massen, und dachte nur daran, dass ihm nichts geschehen möge. Als Claudia merkte, dass sie nichts gegen die Zerstörungswut der beiden Großen tun konnte, kullerten unaufhörlich die Tränen an ihren, trotz der Eiseskälte, glühenden Wangen herunter und tropften in den Schnee. Claudia weinte und weinte, dann lief sie von der Wiese. Dieter neben ihr her, nicht imstande ein Wort herauszubringen. Claudia sagte auch nichts als Dieter ihr den Weg zu dem elterlichen Haus folgte. Sie schellte, ihre Mutter machte die Tür auf und Claudia stürmte ins Haus. Dieter traute sich nicht ihr zu folgen und blieb stehen. Die Mutter fragte ihn, was denn geschehen sei, aber er bekam den Kloß aus dem Hals einfach nicht heraus und blieb stumm. Claudias Mutter bestimmte hierauf ein Warten vor der Tür für ihn. Dieter stand in der Kälte und schlich lautlos durch den Garten. Dieter ahnte schon die kommende, fürchterliche Blamage und spürte wie der Kloß in seinem Hals noch weiter anschwoll. Dieter verstand die Welt nicht mehr. Konnten denn zwei ältere, stärkere und größere Jungen einfach so, nur so aus Spaß, alles kaputt machen? Und wie hätte denn Dieter auch helfen können, der arme kleine Wurm? Nur weil er ein Junge war musste er mutig sein?

      Claudias Mutter öffnete irgendwann später die Eingangstür und rief Dieter zu sich. Nervös und Fingernägel kauend stand er vor ihr und sie fragte warum er Claudia nicht geholfen habe. Das musste ja kommen. Genau die richtige Frage, dachte Dieter. Dieter konnte jedoch nicht antworten, nichts erwidern, starrte nur vor sich auf den Boden und da stiegen auch ihm die Tränen in die Augen. Claudias Mutter blieb hart und stellte fest, dass Dieter doch ein Junge sei. Was auch immer das bedeuten sollte, in dieser Situation. Erhobenen Hauptes offenbarte sie Dieters Strafe: Er sollte nach Hause gehen, Claudia würde jetzt nicht mehr mit ihm spielen und über das "warum" sollte er mal tüchtig nachdenken.

      Das also war die Strafe für einen Feigling. Schluchzend schlich Dieter nach Hause und vergrub sich in sein Zimmer. Dieter hat bis heute niemandem davon erzählt. Weitere Peinlichkeiten konnte und wollte er nicht ertragen.

      Kurze Zeit später hatte die "Neue" in unserer Straße, namens Annette, Dieters Stellung bei Claudia erobert und wurde nach und nach Claudias beste Freundin. Dieter durfte nur noch manchmal im Paradiesgarten mitspielen und fühlte sich dann dort auch nur geduldet.

      Glücklicherweise gab es, wie schon erwähnt, noch andere Mädchen mit denen Dieter spielen konnte. Der Spielort wurde aus dieser Not heraus vom Paradiesgarten einfach auf die Straße verlegt. Die gemeinschaftlichen Spiele wurden meistens von sechs Mädchen und einem Jungen, unserem Dieter, gestaltet. Spiele wie "Halli-Hallo" - (Ich hoffe Du kennst dieses nette Spiel. Ein Spiel bei dem ein Spieler sich ein Wort ausdenkt, zum Beispiel einen Vornamen mit D. In jeder weiteren Runde kommen die nachfolgenden Buchstaben des Wortes dazu, solange bis das Wort gefunden wird. Sobald ein Mitspieler das Wort errät, schreit der Wort-Ausdenker "Halli-Hallo" tupft den Ball, so fest wie nur möglich auf den Boden auf, auf das er weit in die Luft zurückspringt. Je höher desto besser. Der Wort-Erräter muss nun aus seiner irgendwo kauernden Lage heraus den Ball zu fangen versuchen und wenn er ihn gefangen hat, musst er laut "STOP" rufen. Der inzwischen hoffentlich weit weggelaufene Wort-Ausdenker bleibt stehen und bildet mit seinen Armen vor seinem Körper einen Kreis. Der Wort-Erräter, der genau da stehenbleiben musst, wo er den Ball gefangen hat, musst nun versuchen den Ball in den Armen-Kreis des Wort-Ausdenkers zu werfen. Schafft er es, so darf der Wort-Erräter nun seinerseits ein Wort ausdenken, welches geraten werden musst. Schafft er es nicht, so darf der erste Wort-Ausdenker weiter ausdenken.) - oder "Dreh dich nicht um, der Plumpsack geht um", "Völkerball", "Grüne Gasse", Federball, Seilspringen oder "Gummi-Twist, machten den Kindern immer ganz besonders große Freude.

      Aber zurück zu einer weiteren Geschichte von Claudia und unserem noch immer feigen Dieter. Ja ihr habt richtig gelesen - Claudia. Sie hatte wohl an jenem Tag kein anderes Kind zum Spielen gefunden und gab sich an solchen Tagen auch mal wieder mit Dieter zufrieden. Diese Geschichte begab sich beim Vögel füttern. Es geschah ein Jahr später zur gleichen Zeit. Es war wieder Winter und Claudia und Dieter zogen am späten Nachmittag aus, um die restliche Zeit des Tages irgendwie herumzukriegen. Sie entdeckten dabei ein Vogelhäuschen, welches auf einem Pflock angebracht war, in einem benachbarten Garten. Und siehe da, die Vögel flogen nicht einmal weg. Waren sie so zahm oder nur so hungrig? Egal, jedenfalls liefen Claudia und Dieter schnell nach Hause, um sich aus dem elterlichen Vogelfuttervorrat eine Handvoll zu holen. Wieder am Vogelhäuschen angekommen, standen sie mit ausgestreckten, bekörnten, offenen Händchen am Jägerzaun des Gartens und versuchten die kleinen Piep-Mätze anzulocken. Mit "Piep-piep, piep-piep" und "Zirp-ti-zirp" und allen möglichen Pfiffen und Gebärden standen sie am Zaun, aber kein Vöglein wollte auch nur in die Nähe der Beiden kommen. Den größten Erfolg der Beiden, beschied ihnen die Unbekümmertheit einer hungrigen Drossel, die bis auf zwei Meter an den Zaun herankam und zugeworfene Körner aus dem Schnee fraß. Claudia und Dieter vergaßen bei soviel Tierliebe die Zeit. Es wurde schon langsam dunkel und die Füße froren in den Stiefeln, aber keiner von ihnen wollte die Fütterung der "Raubtiere" aufgeben. Plötzlich kamen zwei ältere Jungen auf die Beiden zu. (Schon wieder mal, ja, aber es waren nicht dieselben aus unserer ersten Geschichte.) Die Jungen gibbelten, rempelten sich gegenseitig an und beschimpften sich daraufhin lauthals. Bei diesem Lärm war es kein Wunder, dass die Vögel aufstieben und mit krächzendem Geschrei gen Himmel fuhren. Die zwei Jungen schlugen die Körner aus Claudias und Dieters Händen, zerrten an ihren Mänteln und hatten einen Heidenspaß dabei. Dieter verschlug es wieder einmal die Sprache. Er schluckte einmal kräftig, riß sich los und schwubbs - haste was kannste - ging es im Affenzahn nach Hause, in Sicherheit. Das letzte was Dieter noch mitbekommen hatte, war die Tatsache, dass Claudia wieder einmal ihren "Mann" gestanden hatte. Mit Boxen, Kneifen, Kratzen und Treten wehrte sie sich, bis Dieter - na ja, Du weißt ja was dann geschah.

      Später haben Claudia und Dieter nie wieder über diesen Vorfall gesprochen. (Gott sei Dank, würde Dieter sagen.) Zuhause angekommen,


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