Lebenssplitter. Dietmar Wolfgang Pritzlaff

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Lebenssplitter - Dietmar Wolfgang Pritzlaff


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geöffnet und ein älterer Herr rief etwas. Daraufhin ließen die Italiener Peter los und liefen davon. Der Mann erkundigte sich nach Peters und Dieters Befinden. Sie antworteten ihm, dass alles in Ordnung sei, bedankten sich und gingen weiter in die Innenstadt hinein. Der Fahrer des Wagens wartete noch eine Weile, dann fuhr er davon.

      Drei Jahre älter, aber genauso feige war Dieter in der nächsten Geschichte. Dieter war stolzer Besitzer eines weinroten Fiat 127, seinem ersten Auto. Seit Dieter einen Wagen hatte, fühlte er sich frei. Konnte jetzt in seinen Wagen steigen und ungeachtet der ihm widerstrebenden Chaoten, an dessen Treffpunkte einfach vorbeibrausen. Eines schönen abends fuhr er mit diesem Wagen in eine nahe gelegene größere Stadt. Und warum, fragst Du? Natürlich um ins Kino zu gehen. Warum natürlich, wirst Du jetzt weiterfragen? Nun ja, wenn Dieter unterwegs war ging es meistens in irgendein Kino. Er war (und ist es heute noch) der größte Kinofan aller Zeiten, na ja, jedenfalls für die die ihn kannten. Und warum musste Dieter dafür in eine größere Stadt fahren? Das ist ganz einfach zu erklären. Das kleine Kino in seinem noch kleineren Heimatstädtchen bekam die wirklich guten Filme leider erst viele Wochen nach dem Bundesstart, und da Dieter am allerliebsten die Filme auf großer Leinwand und wenn sie noch sozusagen jungfräulich waren sah, musste Dieter weitere Anreisen in andere Städte in Kauf nehmen, um solchen Ereignissen frönen zu können. Außer Dieter saßen noch Peter, sein bester Freund, Dieters damalige feste Freundin Bärbel und deren allerbeste Freundin Petra, mit im Auto. Die Männer vorne, die Damen hinten, so fuhr man ziemlich beengt durch die anbrechende Nacht schon längere Zeit einem großen Ford Taunus hinterher. Nur so aus Spaß und Blödsinn betätigte Dieter mehrmals die Lichthupe. (Für Uneingeweihte: die Lichthupe ist integriert im Fernlichtschalter und wird meistens zur Warnung oder zur kurzen besseren Fernsicht benutzt.) Also Dieter blinkte nun so vor sich hin, und der Taunusfahrer musst ihm das Geblinke schon die ganze Zeit sehr übelgenommen haben, wegen der Blendung, die das starke grelle Licht erzeugte. Nach einiger Zeit kamen beide Autos vor einer roten Ampel zu stehen. Die Vier im Fiat hatten sehr viel Spaß und redeten und lachten unaufhörlich. Doch plötzlich trat Schweigen ein, denn aus dem Ford Taunus stieg hastig ein etwa dreißigjähriger kräftiger Mann und kam im kurzen Sprint auf den Fiat zu. Peter meinte Dieter solle vorsichtshalber den Türknopf runterdrücken, um die Tür zu verriegeln. Sicher ist sicher. Das tat Dieter auch. Der Mann stand mittlerweile vor der Fahrertür und bölkte auf der Straße herum, dass Dieter gefälligst die Tür aufmachen und rauskommen solle. Dieter dachte aber gar nicht daran. In Dieters Wagen war es jetzt ganz still, keiner traute sich etwas zu sagen. Der Mann hörte gar nicht mehr auf rumzuschreien und schlug sogar auf das Dach des kleinen roten Fiats. Aus Dieters Kehle drang nur ein ängstliches: "Der schlägt mir noch das Dach ein, der blöde Hund", und öffnete anscheinend nicht ganz geistesgegenwärtig, ein wenig das Fenster, um das Rumpelstilzchen dort vor dem Wagen zu beruhigen. Doch Dieter hatte das Fenster zu weit heruntergelassen. Der Spalt war groß genug, um eine geballte Rumpelstilzchen-Faust hindurchzujagen und Dieter eins gehörig auf das linke Auge zu geben. So schnell die Hand gekommen, war sie auch schon wieder draußen. Der Mann rannte zu seinem Ford, denn die Ampel schaltete wieder auf grün. Der Ford setzte seine Fahrt fort. Nur Dieters kleiner Fiat stand allein auf verlassener Flur.

      Erst sagte niemand etwas im Wagen. Betretendes Schweigen. Dann ereiferte sich Peter und meinte, er wäre nicht schnell genug aus dem Gurt gekommen, sonst wäre er aus dem Wagen gesprungen und hätte dem Kerl tüchtig "Eine" verpasst. Die Damen meinten sie wären ja völlig hilflos gewesen und noch immer ganz aufgeregt. So etwas hätten sie noch nicht erlebt. Und dann kamen die Vorwürfe wie etwa: Hättest du doch nicht so weit das Fenster geöffnet, oder: Wenn du nicht so rumgeblinkt hättest. Na ja, geschehen ist geschehen. Doch vergessen konnte Dieter den Vorfall bis heute nicht. Die ganze Sache war doch ziemlich peinlich und ärgerlich. Dieter schämte sich unglaublich für seine Blödheit. Aber wer nicht hören will, musst ja bekanntlich fühlen.

      Fühlen konnte er jedenfalls noch eine Woche etwas von dem Schlag und so ein anfangs noch blaues, später rötliches, dann gelb-grünes Auge fällt dann auch noch auf. Dieter musste überall, wohin er auch ging, Erklärungen abgeben und log das Blaue vom Himmel bei der Frage, woher er denn das Matschauge hätte. Einige Schlägereien wurden ihm angedichtet. Na ja, gar nicht so schlecht. Denn die Leute waren sehr überrascht, dass so etwas Dieter überhaupt passieren konnte. Dieters Bekannte redeten höchstens hinter seinem Rücken über den Vorfall. Wusste man doch wie peinlich Dieter die Sache war. Und er selbst vergrub ganz tief in sich diese Geschichte, wie auch die Geschichten vorher und wollte sie nie wieder ans Tageslicht holen.

      Aus dem Feigling ist heute ein ganz passabler Mensch geworden, doch auch noch heute hat er in manchen Situationen so ein besonderes, gewisses Gefühl der Unruhe. Ist es immer noch Angst? Lebensangst? Etwas nicht zu erreichen? Nicht zu wissen, was zu tun ist? Feige oder ein Held sein? Held sein, ist das menschlich? Des Menschen Aufgabe? Dieter will doch nur leben. Er will doch nur seine Ruhe. Er will nur mit anderen in Frieden leben, lieben und geliebt werden. Das ist alles. Lass ihm doch wenigstens seinen inneren Frieden und versuche ihn zu verstehen.

      Vielen Dank für Deine Bemühungen.

      „Quatsch mich nicht an. Geh weiter, Oma.“ Der schlanke, junge Mann schiebt die ältere Dame grob zur Seite, dreht sich um, geht ein paar Schritte, bleibt dann stehen und sieht sich nervös um. Er wühlt in den Taschen seiner Jacke nach Zigaretten und zündet sich eine an.

      Eine Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen, eine schmierige Bomberjacke, abgewetzte Jeans und natürlich Turnschuhe, damit er besser weglaufen kann. Das muss doch der Mann sein, denkt die alte Dame und geht wieder auf den jungen Mann zu.

      „Ich brauch was“, flüstert die Dame, „dringend“ und sieht den jungen Mann flehend an.

      „Was soll das? Zieh Leine Alte“, fährt der junge Mann die Frau an und bläst ihr abwehrend Zigarettenrauch ins Gesicht. Die alte Dame erträgt es und bleibt vor dem Mann stehen.

      „Sie heißen doch Manfred, Manni, oder?“ Die Frau gibt nicht nach.

      „Na und?“

      „Wie viel verlangen sie?“, fragt die Dame aufgeregt.

      „Ich weiß gar nicht, was du willst. Hau ab, lass mich in Ruhe.“ Der junge Mann dreht sich zur Seite und will gehen.

      Jetzt reicht es der Frau. Sie greift nach dem Ärmel der Bomberjacke. Ihre Finger packen so fest sie nur können den Stoff. Die Dame reißt verzweifelt mit all ihrer Kraft den jungen Mann herum.

      Der junge Mann wird immer nervöser und versucht die faltige Hand von seiner Jacke zu lösen. „Spinnst du jetzt völlig, Oma? Was soll’n das?“

      „Jetzt hör mir genau zu, Manni, Manfred oder wie du dich auch nennst“, faucht die alte Dame. „Ich laufe schon den ganzen Nachmittag hier am Bahnhof herum und suche nach dir, du Wicht. Du verkaufst Stoff - ich brauche Stoff. Du willst Geld – ich habe Geld. Also, her mit dem Zeug.“

      „Was? Was denn für Stoff? Bist du nicht mehr ganz dicht?“ Der junge Mann sieht sich immer wieder um. In einiger Entfernung sind Passanten aufmerksam geworden und beobachten den jungen Mann und die alte Dame.

      „Du weißt verdammt noch mal genau wovon ich rede.“ Die alte Dame ist außer sich. „Und wenn ich das Zeug nicht sofort bekomme dann... dann...“

      „Dann was?“ Der junge Mann spielt wieder den coolen Typen und grinst die alte Dame frech an.

      „Dann schreie ich. Ganz laut.“ Die alte Dame reißt den Mund auf und...

      „He, langsam. OK? Halt bloß das Maul!“ Der junge Mann sieht sich wieder um. Der Mann zieht mit aller Kraft die alte Frau, die sich noch immer fest an seine Bomberjacke krallte, ein paar Schritte weiter in einen Hauseingang. „OK, OK. Du kriegst ja was, alles klar? Mach hier bloß keinen Aufstand.“ Der junge Mann steht mit dem Rücken zum Hauseingang, die alte Frau davor.

      „Nun, mach schon“, fordert die alte Dame den jungen Mann auf. Er kramt in seinen Taschen und holt ein kleines Papierbriefchen heraus. Es liegt in seiner Hand. Die Frau will danach greifen. Der Mann zieht aber seine Hand schnell wieder weg.


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