Lebenssplitter. Dietmar Wolfgang Pritzlaff

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Lebenssplitter - Dietmar Wolfgang Pritzlaff


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aus ihrer Rocktasche und hält sie dem jungen Mann hin. „Mehr habe ich nicht.“

      „Dann gibt’s auch keinen Stoff“, erwidert der Mann ungehalten.

      „Dann schrei ich eben.“ Die Dame holt Luft und...

      „Ist ja schon gut. Hier nimm.“ Der junge Mann gibt der alten Frau das Briefchen. Er nimmt hastig den Fünfziger aus ihrer Hand, reißt sich los und geht eiligen Schrittes davon.

      Geschafft, denkt die alte Dame. Jetzt schnell nach Hause.

      Sie schließt die Wohnungstür auf und geht ins Schlafzimmer. Ihr Sohn wälzt sich im Bett hin und her. Er krümmt sich vor Schmerzen. Er zittert am ganzen Körper. Und immer wieder schreit er.

      „Hast du es?“ Der Sohn setzt sich auf und streckt seine Hand aus.

      Die Mutter nickt nur stumm mit dem Kopf.

      „Gib es mir, gib her“, fordert der Sohn.

      Die Mutter reicht dem Sohn das Briefchen. Sie steht vor dem Bett. Sie sieht ihren Sohn und weiß nicht, ob sie das Zimmer verlassen soll. Sie steht einfach nur da und schaut.

      Mit seiner noch verbliebenen Kraft bezwingt der Sohn sein Zittern und bereitet sich die Spritze. Seine Arme und Beine sind schon zerstochen. Er zieht sich den Socken vom linken Fuß. Die Nadelspitze dringt durch die Hautschichten in die Vene. Langsam leert sich die Spritze. Er zieht die Nadel wieder heraus, verdreht die Augen und fällt rücklings auf das Bett. Der Sohn wird ganz ruhig.

      Die Mutter wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Sie geht um das Bett herum, nimmt die Spritze aus der Hand des Sohnes und legt sie auf den Nachttisch. Dann deckt sie ihren Sohn zu. „Gute Nacht, mein Großer“, flüstert sie zärtlich und streichelt ganz sanft seine Stirn.

      Wir, die Rasselbande aus der achten Klasse, wollten unserem Lehrer Schulte einen Denkzettel verpassen. Herr Schulte zog seinen Stoff durch, ob jemand noch etwas mitbekam oder nicht, ihm war es egal. Auf wiederholtes Nachfragen der Schüler stellte er mit seiner monotonen Stimmlage nur die Gegenfrage: „Hast du nicht aufgepasst?“ Er war sehr streng und schrieb gleich zwei Sechser auf einmal für ungenügendes Betragen im Unterricht ins Klassenbuch. Er erhob sich fast nie von seinem dick gepolsterten Lehrersessel.

      Die ganze Klasse wusste von dem Plan und alle waren dafür. In der großen Pause schlichen vier von uns in die Klasse zurück und präparierten den Lehrersessel mit einer langen Nadel. Wir bohrten sie mit dem Nadelöhr durch den Bezug in den weichen Schaumstoffkern der linken Stuhlhälfte. Die Polsterung des Stuhls war so dick, dass wir fast befürchteten die Nadel würde gar nicht bis zum Hintern des Lehrers reichen. Aber ein Kontrollsitzen unseres Mitschülers Norbert verriet uns, dass alles in Ordnung war. Er hatte sich nur leicht gesetzt, schrie und sprang sofort wieder auf. Norberts Schmerz hielt sich in Grenzen. Nur ein leichtes Pieken, wie er bestätigte. Es war wohl mehr die Angst vor dem Schmerz, die ihn aufschreien ließ.

      Es klingelte zur nächsten Unterrichtsstunde. So ruhig wie an diesem Tag waren wir Schüler noch nie. Frank schob Wache an der Tür. „Er kommt“, flüsterte er und setzte sich schnell auf seinen Platz. Spannung lag in der Luft. Erwartungsvolle Kindergesichter. Hin und wieder ein leises Gibbeln.

      Ahnte Herr Schulte schon einen Streich, als er die Klasse betrat, die viel ruhiger als sonst war?

      Er ließ sich nichts anmerken und ging eiligen Schrittes auf das Lehrerpult zu. Er blieb an der Seite des Pultes stehen und packte seine Tasche aus. Das Erdkundebuch und die von uns so verhassten Arbeitsblätter legte er fein säuberlich auf den Tisch. Dabei begrüßte er uns: „Guten Morgen, Kinder“, und stieg sofort in den Unterricht ein. „In der letzten Stunde sprachen wir über die Erdölvorkommen auf unserer Erde...“ Sein Redeschwall, die Zusammenfassung der letzten Stunde, prasselte über uns hernieder und er sortierte und ordnete noch im Stehen die Arbeitsblätter, ohne uns anzusehen.

      Die vielen Worte zischten durch den Raum und drängten an mein Ohr, aber meine Anspannung, meine Aufregung, um das gleich Folgende, ließen die Worte nicht in meinen Kopf eindringen, prallten unverarbeitet an mir ab und zerplatzten wie Seifenblasen im Raum.

      „So, dann schlagt mal eure Bücher auf, die Seite 137.“ Mit diesen Worten rückte Herr Schulte den Stuhl nach hinten und kam zwischen Tisch und Stuhl zu stehen. Wir kramten nach dem Buch in unseren Taschen, ohne den Lehrer aus den Augen zu lassen. Zu groß war unsere Vorfreude.

      Endlich, er setzte sich. „Heute beschäftigen wir uns mit den Edelmetallen...“

      Jemand musste die Zeit angehalten haben. Das gab es doch gar nicht. Mir kam es vor, als ob sich Lehrer Schulte wie in Zeitlupe bewegte. Ganz langsam beugte er sich nach vorne, zog den Stuhl unter seinen Hintern und nur Stück für Stück bewegte sich sein Körper abwärts. Spürte sein Hintern was auf ihn zu kam?

      Jetzt, der Stich. Herr Schulte saß. Die Augen der ganzen Klasse stierten in sein Gesicht. Keine Regung. Er saß gemütlich auf dem Stuhl, die dicke Polsterung wurde unter seinem Gewicht fast ganz zusammengepresst, die Nadel musste tief im Hintern stecken und immer noch keine Regung.

      Alle Schüler erstarrten. Verstohlen sahen wir uns gegenseitig an. Jetzt bloß nicht auffallen, dachte ich. Herr Schulte fuhr unermüdlich mit seinem Unterricht fort.

      „Martin?“ Ich hörte meinen Namen. Herr Schulte sah mich an. „Was, wie?“, fragte ich zurück.

      „Ich hatte dir eine Frage gestellt.“ Herr Schulte blieb wie immer ganz ruhig. „Weiß ich nicht“, antwortete ich mit gebrochener Stimme.

      Herr Schulte notierte sich etwas und fragte dann Angelika, aber auch sie wusste nicht zu antworten. Stefan, der neben mir saß, musste für Herrn Schulte die Arbeitsblätter verteilen. Hausaufgaben. Herr Schulte redete weiter und weiter und weiter. Die Stunde schien kein Ende zu nehmen.

      Endlich, die Pausenglocke. Herr Schulte stand auf, packte das Erdkundebuch wieder in seine Tasche und ging.

      Alle Schüler starrten ihm nach. Unsere Blicke suchten seinen ganzen Hintern ab. Nichts zu sehen. Keine Nadel, kein Blutfleck, nichts.

      Stefan und ich untersuchten den Stuhl. Die Nadel war weg. Verwundert gingen wir in die Pause. Auf dem Pausenhof begannen die Fragen. Konnte die Nadel verrutscht sein? Abgebrochen vielleicht? Hatte ein Schüler aus unserer Klasse die Nadel zuvor entfernt?

      Lea überlegte: „Sie steckt bestimmt noch in seinem großen Hintern. Der ist so dick, da merkt er eine Nadel vielleicht nicht mehr.“

      „Ich glaube, sie steckt nur im Stoff seiner Hose und hat ihn gar nicht getroffen“, gab Werner zu bedenken.

      Wir suchten nach Möglichkeiten, kamen aber immer wieder auf einen Gedanken zurück: Hatte Herr Schulte den Stich ausgehalten? Ohne mit der Wimper zu zucken ausgehalten? Die ganze Schulstunde über?

      Der Gedanke machte uns Angst. Das war nicht menschlich. Herr Schulte wurde für uns unangreifbar. In unseren Köpfen wurde er zu einem übernatürlichen Wesen.

      Seit dem passten wir in Herrn Schultes Schulstunden mächtig auf. Keiner hatte noch Lust zu Späßen, Schabernack und Streichen. Das wirkte sich auch auf die Stunden anderer Lehrer aus. Unsere gesamte Klasse war wie verwandelt.

      Und noch heute verfolgt mich dieses Bild: Herr Schulte setzt sich... langsam... wie in Zeitlupe... Die Nadelspitze wartet unter ihm... Herr Schulte sitzt... Keine Regung... Keine... Nichts...

      Vor Erschöpfung war das Mädchen eingeschlafen. Sie lag in den Armen einer fremden Frau. Die Fremde saß auf den schmutzigen Bohlen des Wagons. Jetzt erwachte die Kleine. Sie erschrak. Die Fremde streichelte den Kopf des Mädchens. Fragend sah das Mädchen die Fremde an. „Ruhig, ganz ruhig, meine Kleine,“ sagte die Frau ganz sanft und hielt das Mädchen noch fester in ihren Armen. „Bald ist alles vorbei.“

      Das Mädchen wollte etwas erwidern, bekam jedoch keinen Laut aus ihrer Kehle. Ihr Mund war ausgetrocknet vom Schreien und


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