Lebenssplitter. Dietmar Wolfgang Pritzlaff

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Lebenssplitter - Dietmar Wolfgang Pritzlaff


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Urin biss sich durch Nase und Mund in die Lunge.

      Das Mädchen lauschte. Sie hörte keine Fahrgeräusche mehr, nur noch die Angstschreie der Anderen. Das Flehen und Betteln nach Wasser. Sie schaute nach oben. Über ihr versuchten verzweifelt knochige Hände Löcher in die Bretter der Außenwände zu kratzen.

      Sie drehte ihren Kopf zur Außenwand und erspähte einen kleinen Spalt zwischen den Brettern, genau in Augenhöhe vor ihr. Die fremde Frau entließ sie aus ihren Armen und das Mädchen schob ihren Kopf vor die Bretterwand. Sie sah durch den schmalen Schlitz nach draußen. Der Zug stand still. Der Himmel blau, ohne Wolken. Die Sonne brannte unablässig herab auf goldgelbe Felder und grüne Wiesen. Neben den Gleisen ein Stein mit eingemeißelten Zahlen: 4 2 .

      Plötzlich ein harter Schlag von außen gegen die Bretterwand. Ihr Kopf zuckte ruckartig von dem Schlitz in der Wand zurück. Im letzten Moment sah sie noch den Mann in Uniform vorbeigehen. Sie lehnte sich wieder zurück, in die offenen Arme der fremden Frau. Der Zug rollte an. Die Fremde hielt das kleine Mädchen wieder ganz fest. „Bald haben wir es überstanden“, hörte das Mädchen die Frau noch sagen, dann schlief sie vor Schwäche ein.

      Die alte Dame erwachte aus ihrem kurzen, aber tiefen Schlaf. Ihr Kopf war schwer geworden und lehnte an der Kopfstütze. Die Dame hatte sich extra einen Fensterplatz reservieren lassen, um die Landschaft betrachten zu können. Jetzt schlug sie die Augen auf. Sie sah keine Landschaft mehr, dafür fiel ihr Blick auf ein schmutzig, beige-graues Rollo. Ihre Hand ergriff die Außenkante des Rollos und zog es ein wenig zu sich. Durch den Spalt sah die Frau hinaus. Der Zug rollte ganz langsam, fast geräuschlos. Die Sonne schien über das Land. Über die goldgelben Felder und saftig grünen Wiesen. Ein Stein. Eine Zahl. 42. Die alte Dame erstarrte, fasste sich an die Brust und rang nach Atem. Der Zug fuhr langsam an dem Kilometerstein vorbei.

      Die junge Frau ihr gegenüber sprach: „Ich habe das Rollo heruntergezogen. Die Sonne fiel durch das Fenster direkt auf ihr Gesicht.“

      Die alte Dame wendete sich abrupt der jungen Frau zu und atmete schwer. „Sehr aufmerksam von ihnen, vielen Dank. Können sie es bitte wieder aufmachen? Bitte! Schnell!“

      „Natürlich, sofort, ja. Geht es Ihnen gut?“ Die junge Frau ergriff das Ende des Rollos, wendete sich dann aber dem dritten Fahrgast zu. Ein dicker Herr in einem dunkelblauen Anzug. Er las eine Zeitung. „Wenn es ihnen nichts ausmacht...?“

      Der Herr wirkte abwesend. „Was? Bitte? Oh, verzeihen sie. Auf oder zu, wie sie wollen,“ sprach er.

      „Dann also auf,“ lächelte die junge Frau und zog das Rollo aus der Halterung. Es zog sich aber nicht von selbst zurück. „Ich glaube es klemmt.“

      „42. Natürlich klemmt es“, wisperte die alte Dame. Man sollte sie doch nicht von draußen sehen. „42, mein Gott, 42... Schlagen Sie das Rollo doch einfach hoch.“ Wie stickig es hier ist. „Öffnen Sie bitte das Fenster, sofort.“

      Die junge Frau hielt das alte Rollo in einer Hand, mit der anderen versuchte sie das Fenster zu öffnen.

      „Ich schaff es nicht“, klagte die junge Frau und riss an einem der Fenstergriffe.

      „Ja, ich weiß, ich weiß. Das schafft niemand. Oh, Gott, 42... kein Ausweg,“ wimmerte die alte Dame.

      Der dicke Herr erhob sich und sagte: „Lassen Sie mich mal machen, dann ist bald alles vorbei und wir haben es überstanden.“ Die junge Frau stand noch am Fenster und hielt das Rollo. Der dicke Herr ging auf das Fenster zu.

      ...alles vorbei? ...überstanden? „Nein“, schrie plötzlich die alte Dame als der wuchtige Körper des dicken Mannes sie fast zu erdrücken drohte. Sie stand auf. Ihre Handtasche, die auf ihrem Schoss gelegen hatte, fiel zu Boden. Die Dame schlug mit all ihrer Kraft gegen den Bauch des dicken Herrn und quetschte sich an ihm vorbei.

      „Na, hören sie mal...“, beschwerte sich der dicke Herr, aber das nahm die alte Dame nicht mehr wahr. Sie öffnete die Abteiltür und schleppte sich durch den Gang. Sie hörte Schritte hinter sich. Menschen, viele Menschen traten auf den Gang und gingen ihr nach. Nur fort von hier. Weit weg. Sie öffnete die Verbindungstür zum nächsten Wagon. Aber da standen auch schon eine Menge Leute. Sie drängte durch die Menschenansammlung. Da, endlich eine Tür nach draußen. Sie fasste den Türgriff, drückte ihn nach unten...

      Ein Zugbegleiter in Uniform hielt sie an der Schulter fest und fragte: „Wo wollen wir denn hin, Oma? Der Zug fährt doch noch.“

      Die alte Dame schrie, riss sich los und stolperte nach vorne. Die Tür schwang auf, die alte Dame konnte sich nicht mehr halten und stürzte aus dem Zug. Sie brach sich das Genick und war auf der Stelle tot.

      In der Handtasche der alten Dame fanden Polizisten eine Postkarte: „Liebe Oma, wir freuen uns so sehr, dass Du uns, nach all den Jahren, auch mal in München besuchen kommst. Wir holen Dich vom Bahnhof ab...“

      Nach Stunden der polizeilichen Untersuchungen fuhr der Zug weiter. Nächster Halt: Dachau!

      Ein leises Röcheln nimmt Rainer noch wahr, dann sackt Norberts Körper, der sich mit der wenigen, ihm noch verbliebenen Kraft an Rainer klammerte, in sich zusammen.

      Rainer umschlingt den Toten noch fester als vorher. Er weint und bettet sein Gesicht auf den fast kahlen Kopf seines Freundes. Norbert wiegt nur noch fünfundvierzig Kilo, er besteht nur noch aus Haut und Knochen. Dunkle große Flecken verunstalten die sowieso schon runzelige Haut, die aussieht, als sei sie von einem 90-jährigen.

      Aber Norbert ist erst 26 Jahre alt, als er in Rainers Armen stirb. Endgültig, für alle Ewigkeit dem genommen, der ihn doch so braucht. Was ist Rainer denn schon ohne Norbert, den großen Lebenskünstler, der sich selbst sein Schwulsein schon mit 14 Jahren zugestanden und dann ein ganz offenes Leben geführt hatte? Seine Eltern hatten ihn akzeptiert, und er seine Eltern. Sie hatten in großer Harmonie gelebt.

      Und jetzt ist der Mensch tot, der Rainer zu seinem Coming-out verholfen hatte, der ihn gelehrt hatte neu zu leben, ohne Angst zu leben, sich zu akzeptieren, ohne sich ständig vor anderen zu verstecken, zu lügen, sich selbst zu belügen.

      Als Norbert krank geworden war, hatte sich Rainer um Norbert gekümmert, erst die vielen Monate zu Hause, dann im Krankenhaus. Fast täglich war er gekommen und Stunden bei seinem Freund geblieben. Dieses Zimmer war im Laufe der Zeit zu seinem Zuhause geworden, hier war Norbert, hier war Geborgenheit, hier waren tiefe Gefühle und seine große Liebe gewesen.

      Behutsam hebt Rainer den Leichnam seines Freundes hoch und drückt ihn dann wieder fest an sich, an seine beharrte muskulöse Brust, die Norbert immer so geliebt und an der er seine Phantasien ausgetobt hatte. Lüstern hatte er Rainers Brustbehaarung gekrault. Wie gerne hatte er an seinen Brustwarzen gespielt, sie gesaugt, geleckt und sogar zärtlich gebissen. Ab und zu hatte Norbert auch mal härter an Rainers Brust gefasst, um sie zu kneten und zu drücken.

      Rainer schluchzt und heult. Für ihn ist Norbert alles gewesen. Rainers Eltern hatten erst vor ein paar Jahren von seinem Leben im Dunkeln erfahren, und das auch nur, weil Norbert ihn dazu aufgefordert hatte, endlich ein Gespräch zu suchen. Rainer hatte über Rainer erzählt, das wäre ihm selbst nie in den Sinn gekommen, das hätte er sich niemals getraut. Aber er hatte es schließlich doch geschafft: Er konnte über sich selbst zu anderen, erst zu schwulen Freunden und zu engen Bekannten, dann mit Norberts Familie und schließlich auch mit seiner eigenen Familie reden.

      Zuerst hatten Rainers Eltern mit völliger Ablehnung reagiert. Man hatte sich ausgeschwiegen, wo sonst zusammen geplaudert, diskutiert, gelacht und geweint worden war. Unausgesprochenes und Unterdrücktes bildete eine unüberwindbare Mauer. Die Mutter hatte ihre eigenen Fehler in der Erziehung gesucht, und füllte nicht nur ein Taschentuch mit ihren Tränen. Der Vater hatte gemeint, Rainer solle zu einem Arzt gehen und sich mal ganz auf den Kopf stellen lassen. Oder zu einem guten Psychiater, der das verdrehte, nicht normale Denken wieder entwirren und auf die rechte Bahn bringen sollte. Vielleicht kann man es herausprügeln, hatte sein Vater einmal sehr ernst zu Rainer gesagt. Diese verdammte Krankheit, die Krankheit der Verdammten,


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