Lebenssplitter. Dietmar Wolfgang Pritzlaff

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Lebenssplitter - Dietmar Wolfgang Pritzlaff


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helfen, etwas aus ihm herauszubekommen. Er blieb stumm und druckste nur so herum.

      Aber nicht nur mit dem Mädchen Claudia passierten Dieter solche Sachen. Die nächste Feigheits-Story ereignete sich in Anwesenheit eines blonden, mit dicken Gläsern bebrillten Mädchen beim Rollschuhlaufen. Dieter fühlte sich stark, ärgerte und stänkerte aus Spaß und Langeweile das blonde Mädchen namens Regina, bis ein viel jüngerer, aber von seiner Statur her, kräftigerer Junge des Weges kam. Regina kannte ihn aus der Schule und bat ihn um Hilfe. Ein "nichts leichter als das" war in seinen Augen zu lesen und dann jagte der Junge hinter unserem armen berollschuhten Dieter her. Der Überraschungsangriff gelang. Der Junge erwischte ihn beim Ärmel, zerrte ihn herum und klatsch - hatte Dieter eine knallrote Wange geschlagen bekommen. Anstatt sich zu wehren, dachte Dieter beleidigt, wütend und traurig zugleich nur darüber nach, wie man sich in solch einer Lage denn hätte anders verhalten, sich wehren, sich helfen können und warum Regina so etwas mit ihm anstellen ließ. Er zog die Rollschuhe aus und ging verstört nach Hause. Dieter verschloss sich immer mehr und mehr, in seinem Geist und in seinem Zimmer vor der Außenwelt. Traute sich schon gar nicht mehr auf die Straße, und wurde langsam aber sicher, so ein richtiger ungenießbarer Einzelgänger.

      Einmal ging er allein in den Wald, um Pilze zu suchen. Ganz allein, mit einem großen geflochtenen Korb in der Hand, schlich er durch den herbstlichen Wald und durchwatete knöcheltiefes Laub. Als er den Korb voll der schönsten und kräftigsten Steinpilze und Rotkappen gesammelt hatte und ein Lied summend, den Heimweg antreten wollte, kamen ihm zwei Jungen in die Quere. (Schon wieder!) Die beiden waren viel jünger aber in der Überzahl (Zwei, immerhin.) Die beiden Jungen pöbelten Dieter an. Das reichte Dieter schon für einen kurzen Sprint. (Schnell weglaufen hat Dieter dadurch gelernt.) Wir wollen ehrlich sein, Dieter lief nicht, er hetzte durch den Wald nach Hause. Verlor dabei die ganzen Pilze und log seiner Mutter vor, dass er keine gefunden habe.

      Die beiden Jungen kannten Dieter jetzt, wussten wo er wohnte und erfuhren auch, dass Dieter der einzige Junge in seiner Straße war. Die Jungen kamen jetzt immer öfter, gerade in diese Straße und Dieter blieb immer öfter zu Hause. Sah Dieter die Jungen von weitem, so machte er einen großen Bogen um sie, und versuchte auf allen möglichen und unmöglichen Schleichwegen nach Hause zu kommen, um sich dort vor ihnen und der Umwelt zu verstecken.

      Informationshalber sollten wir noch in einer so traurigen Geschichte zwei Freudenerlebnisse des feigen Dieters, die in ganz besonderer Art und Weise mit den zuletzt geschilderten Begebenheiten in Verbindung standen, erwähnen.

      Das Erste war die Nachricht, dass einer der beiden oben erwähnten Jungen, durch einen Verkehrsunfall gestorben, und der andere Junge mit samt seiner ganzen Familie, wer weiß wohin verzogen war.

      Welches Glück, welche Freude erlebte Dieter, ausgelöst durch diese wunderbaren Umstände, die ihn von einem der größten Übel seines Lebens befreite. Seine Freude, seine Schadenfreude sprang in seinem Geiste über Tisch und Bänke und er dankte sogar gen Himmel dafür.

      Nach vier quälenden Grundschuljahren löste sich Dieters Klasse auf. Quälende Jahre, weil Dieter immer den anderen Jungen aus der Klasse, mit den tollsten Tricks und meist mit riesigen Umwegen, auf dem Weg zur Schule und wieder nach Hause, auszuweichen versuchte. Manche Kinder aus seiner Klasse gingen zur Realschule oder auf das Gymnasium. Und was tat Dieter? Er ging zur Hauptschule, denn dorthin gingen auch die ihm so liebgewonnenen Freunde (ja, auch Dieter hatte tatsächlich ein paar Freunde gefunden) und vor allem Freundinnen. Claudia, zum Beispiel, ging auch in das Hauptschul-Zeitalter über. Großmäuler, Schläger und Kravallisten ließen sich angeblich nur zu anderen Schulen versetzen. Davon wollte Dieter nichts wissen. (Dennoch gab es weiterhin genug Pöbler und Stänkerer an der Hauptschule und auch in seiner Klasse. ÄTSCH!)

      Dieters bester Freund Peter wohnte einige Straßen weiter. Um dort hinzugelangen, musste Dieter wohl oder übel an einem Treffpunkt für oben beschriebene Chaoten und Halbstarken, die sich stärker als alle anderen vorkamen, Flasch-Bier zutschten und Leute anpöbelten, vorbei. Auch Dieter wurde von ihnen ein paarmal angequatscht, so dass er schleunigst Auswege suchte, um diesen Treffpunkt zu umgehen.

      Ein Schleichweg führte durch ein Waldstück und dann mitten über einen Friedhof. Wenn Dieter über den Friedhof ging, beschlich ihn natürlich ein ganz eigenartiges Gruselgefühl, doch war dieses Gruseln immer noch erträglicher als die Anmachereien der Krachschläger, und von dem Friedhof aus, war es dann auch nicht mehr so weit zu Peter.

      Dieters Freund Peter, der sich nichts aus den Krachern machte, wunderte sich öfters als nur einmal über Dieters Wunsch über den Friedhof gehen zu wollen, wenn sie beide gemeinsam unterwegs waren. Dieter log, dass sich die Balken bogen. Er fände das schön-unheimlich, bei Mondschein über den Friedhof zu stiefeln. Nur das nicht immer Mondschein war, gab denn doch Peter Anlaß zu weiterem Nachdenken.

      Ein anderer Weg, um zu Peter zu gelangen, war zwar komplizierter und auch teurer, wurde aber von unserem Feigling Dieter auch gerne des Öfteren genutzt. Ein Bus fuhr von der Bergeshöhe, auf der Dieter wohnte hinab ins Tal. Und von da aus konnte er, da sein Freund Peter auf halber Höhe des Berges wohnte und Dieter mit dem Bus viel zu weit in das Tal hinabfahren musste, auf einem steilen Weg, genannt "Zick-Zack-Weg", weil er in Zick-Zack-Form nach oben führte, wieder zu der Straße gelangen auf der Dieters Freund Peter wohnte.

      Diese Problem-Lösung war wirklich ein zeitaufwendiges und kompliziertes Ereignis. Dieter musste dafür sein sparsam eingeteiltes Taschengeld einer Verkehrsgesellschaft in den Rachen werfen, aber was tat Dieter nicht alles, um nicht gesehen zu werden, um nicht in irgendeine schwierige, für ihn nicht zu bewältigende Situation zu geraten. Und auch der steile Wieder-Anstieg über den Zick-Zack-Weg machte ihm dann nichts mehr aus. Dieter verbrachte mehrere Stunden am Tag damit, sich Wegrouten auszudenken, bei denen er ohne seelische und körperliche Schäden davonzutragen, von einem Ort zum anderen gelangen konnte. Oder er rief seinen Freund Peter an, um ihn zu fragen, ob er nicht lieber kommen wolle.

      Zwei weitere Geschichten, in unmittelbarem Zusammenhang mit Peter stehend, sollen nicht unerwähnt bleiben. Die Erste beginnt damit, dass Peter, zu jener Zeit 18 Jahre jung (Dieter, war erst 16) seinen Führerschein machte und sich einen Wagen kaufte. Einen grünen, halbautomatischen Käfer, mit dem Peter und Dieter in eine nicht weit entfernte, aber größere Stadt fuhren, um ins Kino zu gehen. Auf einem Parkplatz nahe dem Stadtkern parkte Peter den Käfer und dann gingen er und Dieter den Rest zu Fuß weiter. Auf der Straße zum Kino begegneten sie fünf Italienern, die auch so zwischen 16 und 18 Jahre alt waren. Sie lachten laut und lamentierten. Sie stellten sich gegenseitig ein Bein, rempelten und stießen sich an. Die Italiener kamen immer näher und Peter und Dieter im Gespräch vertieft, wichen ihnen ein paar Schritte auf der Straße aus, um an ihnen vorbeizugehen. Einer der Italiener jedoch entwickelte solch einen Spaß am Stänkern, dass er direkt auf Peter zuging, ihn mit der Schulter anrempelte, ganz gekonnt theatralisch zur Seite torkelte und dann seine Kumpels heranrief. Die stellten sich jetzt um Dieter und Peter und begannen laut herumzutönen. Peter sollte sich gefälligst entschuldigen, was er natürlich nicht tat. Er erklärte, dass er keine Schuld habe und das er nicht gewillt war, sich zu entschuldigen. Zwei der Italiener drängten Peter zu einer nahen Hauswand, hielten seine Arme fest und sagten, dass er sich trotzdem entschuldigen und vielmals um Verzeihung zu bitten solle.

      Was tat denn Dieter in dieser ganzen Zeit, wirst Du Dich jetzt fragen? Eine gewiß ganz berechtigte Frage. Er stand mit den anderen Italienern Peter gegenüber. Hatte mal wieder einen dicken Angstkloß im Hals und schwätzte leise vor sich hin. Er versuchte mit diesem leisen Reden die Italiener zu beschwichtigen. Faselte so etwas wie, hört doch auf, das bringt doch nichts, wir entschuldigen uns und damit gut, aber die Italiener hörten nicht auf Dieter.

      Das Komischste an der ganzen Sache war, dass die Italiener Dieter nicht festhielten. Er stand nur so da, genau zwischen Zweien. Er hätte seinem Freund helfen können, aber stand nur da und hörte auf sein wild schlagendes kleines Feiglingsherz. Der fünfte Italiener kam plötzlich angestürmt und schlug Peter mit der Faust ins Gesicht. Peter wollte sich wehren, wurde aber immer noch festgehalten.

      Dieter rang nach Atem und spürte wieder diese Feiglingsschmerzen, spürte Schmerzen im Gesicht. Es war ihm, als ob er selbst den Faustschlag abbekommen hätte. Er stand da, stocksteif und konnte nichts tun.


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