Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark

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Im gleißenden Licht der Sonne - Clare  Clark


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die Rede. Eine S-Bahn war entgleist, als ein Telegraphenmast auf die Schienen gestürzt war. Angaben darüber, wie viele Menschen verletzt oder getötet worden waren, konnten noch keine gemacht werden. Julius stand, mit seinem Pyjama bekleidet, am Fenster des Ankleidezimmers und sah in den Garten hinunter. Von der größten Linde war ein Ast abgebrochen. Er ragte mit seinem zerfetzten Stumpf aus dem Rasen empor, um ihn herum lagen die Rosenblüten wie Konfetti verstreut.

      Julius blieb lange am Fenster stehen. Dann ging er hinauf ins Kinderzimmer. Es überraschte ihn ein wenig, den Raum genauso vorzufinden, wie er ihn in Erinnerung hatte. Er setzte sich auf den Stuhl in der Ecke und betrachtete das kleine Bett mit den Holzstäben, das Schaukelpferd, den bunten Zug auf seinem Gleisoval. Auf dem Nachttisch lag noch ein Stapel Bilderbücher, daneben das in einem Atelier entstandene Porträtbild im Silberrahmen, aufgenommen, als der Junge erst ein paar Monate alt gewesen war. Der Fotograf hatte den Kleinen in seinem gestärkten weißen Kleidchen, das sich um ihn herum bauschte, in einem hölzernen Leiterwagen platziert. Sein fast farbloses Haar war ordentlich gekämmt. Neben ihm stand ein Stoffhund, dem die Fellzunge aus dem Maul hing, unerschütterlich Wache. Es war ein zuckersüßes Arrangement, sentimentaler wilhelminischer Kitsch. Julius hatte das Bild nie gemocht.

      Er nahm das Foto in die Hand. Sein Sohn blinzelte ihn ängstlich an, seine Händchen klammerten sich wie Seesterne um die Seitensprossen des Wagens. Julius hätte nie gedacht, dass er einmal Vater werden würde. Luisa hatte ebenso wenig ein Kind gewollt. Er sei zu alt, um sein Leben zu ruinieren, hatte sie gesagt, und sie zu jung. Sie kannte einen Modearzt, der solche Dinge in ihrem Freundeskreis erledigte. Julius war froh darüber. In jenem ersten berauschenden Jahr konnte er den Gedanken nicht ertragen, sie mit jemandem teilen zu müssen. Im Lauf der Zeit fand die Brutalität ihrer Auseinandersetzungen ihren Widerhall in ihren Liebesspielen, Lust und Wut entluden sich in kurzen, heftigen Kopulationen, bei denen Luisa biss und bockte und ihm die Fingernägel ins Fleisch bohrte. Ihre Mitteilung, schwanger zu sein, war für ihn nur eine weitere Kriegserklärung. Ihr rundlich werdender Körper strahlte die den Puls beschleunigende Erotik von Tizians Venus von Urbino aus, aber Julius brachte es nicht über sich, sie anzufassen. Es schien unmöglich, dass sie gemeinsam ein Kind erschaffen hatten, das Symbol schlechthin der Unschuld und Unverdorbenheit. Stattdessen kamen ihm die Geschwulste in den Sinn, die er in Virchows Pathologischem Museum in der Charité gesehen hatte, aufbewahrt in Glasbehältern, missgestaltete Klumpen mit abstehenden Haaren und Zähnen, Fleisch gewordene Wut und Verbitterung.

      Und dennoch – als der Junge zur Welt kam, war er einfach nur ein Baby. Nichts änderte sich. Luisa stopfte weiterhin das Haus mit ihren hirnlosen Freunden voll. Julius schrieb weiter, hielt Vorträge und reiste. Jemand musste schließlich die Blumen und den Champagner bezahlen. In ihrem Privatreich im obersten Stock folgten das Baby und das Kindermädchen ihren eigenen undurchsichtigen Ritualen und Gewohnheiten.

      »Entschuldigen Sie bitte, es tut mir sehr leid, ich wusste nicht …«

      Erschrocken blickte Julius auf. Das Hausmädchen stand verlegen in der Tür und hielt sich mit beiden Händen an ihrem Besen fest. Es war Frau Langs persönlicher Stolz, den Mädchen beigebracht zu haben, wie man sich fast lautlos im Haus bewegte. Frau Lang wusste, wenn Julius arbeitete, ertrug er nicht einmal das Geräusch von Schritten.

      »Ist schon in Ordnung, kommen Sie herein. Ich gehe gleich«, sagte er, aber das Hausmädchen schüttelte den Kopf und zog sich auf den Treppenabsatz zurück. Mit scharlachroten Ohren machte sie einen Knicks, als er an ihr vorbeiging. Erst als er nach seiner Armbanduhr tastete, wurde ihm bewusst, dass er immer noch im Pyjama steckte.

      Im Ankleidezimmer lief nach wie vor der Radioapparat. Regenwasser tropfte aus der Dachrinne und floss in dicken Rinnsalen über die Fensterscheibe. Julius stellte das Foto seines Sohns auf die Kommode.

      »Wie das Berliner Wetteramt meldet, steigt das Barometer, und es wird über Nacht aufklaren«, verkündete der Rundfunksprecher. »Die Aussichten sind freundlicher.«

      Ging in diesem Moment etwas in Deutschland kaputt? Es gab keine andere Erklärung, Julius fand zumindest keine. Die Inflation grassierte schon seit Monaten, seit Jahren, aber bisher hatte die Krise immer eine Art Gestalt gehabt, eine Struktur, die zumindest für Julius einen Sinn ergab. Auch wenn die Welt auf den Abgrund zusteuerte, hielt sie sich dennoch weiterhin leidlich an die Grundregeln der Ökonomie und der Physik. Banknoten zirkulierten. Löhne wurden gezahlt und Güter verkauft, wenngleich zu skandalösen Preisen. Die Mark blieb eine Recheneinheit mit einem absoluten Wert, auch wenn dieser mit jeder weiteren Woche schwand. Obwohl man nie wissen konnte, was man noch dafür bekam, war die Mark bis jetzt ein Maßstab gewesen.

      Urplötzlich hatte sich das geändert. Die Aussichten werden freundlicher. Mit dieser zuversichtlichen Ankündigung brach die Welt aus ihrer Verankerung und zerschmetterte alles. Innerhalb weniger Wochen wurde die Inflation zu einem Fiebertraum, besinnungslos und unaufhaltsam, und Julius war reich. Nicht reich, wie sein Vater es mit seinen Fabriken und Aktien gewesen war, sondern obszön, unaussprechlich reich. Zwar stagnierten in Europa die Verkaufszahlen von Vincent, und die Tantiemen versiegten allmählich. Auch die amerikanischen Erlöse erwiesen sich als enttäuschend. In Paris oder New York hätte es für Julius kaum zum Leben gereicht. In Berlin war er ein Maharadscha. Mitte August war ein Dollar, der noch vor einem Monat achtzehntausend Mark gekostet hatte, eine Million Mark wert. Und im September bereits einhundert Millionen. Es war wie eine Höllenfahrt in einem Aufzug, dessen Seil gerissen war, ein Sturz in hilflosem Erstarren bis zum Aufprall, nur dass dieser Aufprall nicht erfolgte. Der Aufzug raste nur immer schneller nach unten, einhundertfünfzig Millionen, zweihundert Millionen. Jede Null war ein weiterer Edelstein an Julius’ Kette, die inzwischen so schwer war, dass er den Kopf kaum noch heben konnte.

      Eines Abends bei einem Theaterbesuch wurde er in der Pause von einem Bekannten bedrängt, einem Bankier. Er gehöre einem Konsortium an, das in Berlin ganze Straßenzüge aufkaufe, erzählte er. Häuser, die vor einem Jahr für vielleicht fünfzigtausend Mark veräußert worden wären, wechselten jetzt für weniger als fünfhundert Dollar den Eigentümer. Er drängte Julius, in dieses Geschäft zu investieren.

      »Sie machen damit einen Mordsreibach«, sagte er, aber Julius lehnte ab. Anständige Menschen, erwiderte er in eisigem Ton, sind keine Halsabschneider. Er verschwieg jedoch, dass er kürzlich einen vorzüglichen Akt von Seurat unter der Hand für sehr wenig Geld erstanden hatte. Kunstwerke waren nicht wie Ziegelsteine oder Mörtel, sie hatten keinen spezifischen, objektiven Wert. An einem Nachmittag im April vor fast dreißig Jahren war Julius in die Galerie von Ambroise Vollard in der Pariser Rue Laffitte spaziert. Das Selbstbildnis hatte ihn schier umgehauen, aber Vollard zuckte nur die Achseln und nahm es achtlos von der Wand, als wäre es eine der Klecksereien von der Rive Gauche. Er habe die Nase voll von hoffnungslosen Fällen, erklärte Vollard mürrisch und verkaufte Julius das Bild für sechshundert Franc. Ein Gemälde war nur das wert, was ein Käufer dafür auszugeben bereit war.

      Rachmann ließ nicht von sich hören. Julius dachte oft an ihn und hoffte, dass er es schaffte, sich über Wasser zu halten. Die Sache mit dem Trübner war zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt passiert. Tag für Tag gingen immer mehr Geschäfte bankrott. Die Arbeitslosigkeit stieg unaufhörlich. Ein Ei kostete eine Milliarde Mark. Eine Milliarde – ein Wort, das kaum mehr sonderliche Beachtung fand. Im Umland der Stadt bewachten die Bauern ihre Kartoffeläcker, bewaffnet mit Gewehren. Julius sollte an seinem neuen Buch arbeiten. Manchmal, wenn der Tag sich neigte und die Schatten die Zimmerecken wie Spinnweben einhüllten, sah er hoch und einen Augenblick lang, bevor es ihm wieder einfiel, war es immer noch da, dieses gequälte, quälerische Gesicht, und fixierte ihn mit seinem durchdringenden, unverwandt starren Blick. Manchmal färbte die untergehende Sonne das Weiß der Wand zu einem zarten Rosa, und der leere Nagel schimmerte wie ein Auge.

      Dank der Käufer aus dem Ausland gehörte Hugo Salazins Galerie zu den wenigen, die nicht hatten schließen müssen. Julius wusste nicht, was ihn mehr deprimierte: Salazins Künstler oder seine Kunden, aber als er eine Einladung zur Eröffnung der neuen Ausstellung erhielt, sagte er auf der Stelle zu. Bei seinem Eintreffen drängten sich in der Galerie bereits die Gäste. Er bahnte sich einen Weg durch das Stimmengewirr und suchte in der Menge nach Rachmanns kupferfarbenem Haarschopf, konnte ihn aber nirgends entdecken, obwohl er mehrmals durch


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