Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark
Читать онлайн книгу.»Ich habe kein Recht, Sie das zu fragen«, sagte er. »Sie waren mir gegenüber schon so großzügig. Aber könnten Sie mir erklären, woran Sie es erkennen? Wenn ich einfach … wenn ich verstehen könnte, was genau Sie sehen, wie Sie darauf kommen, dann würde ich vielleicht … dann würde ich mich nicht wie ein Dummkopf fühlen.«
»Sie sind kein Dummkopf. Ich kenne viele Händler mit mehr Erfahrung als Sie, die denselben Fehler begangen hätten.«
»Aber ich will nicht sein wie die, verstehen Sie? Das würde ich nicht ertragen. Wenn ich mich in diesem Metier behaupten will, wenn meine Arbeit etwas wert sein soll, dann muss ich sehen lernen, wie Sie sehen, mit dem Herzen.«
Julius konnte sich nicht erinnern, wann jemand ihm gegenüber zuletzt so offen gewesen war; als gäbe es nichts zu verlieren, wenn man die Wahrheit aussprach. »Wer so empfindet wie Sie, ist bereits halb am Ziel«, sagte er, doch Rachmann schüttelte nur den Kopf.
»Ich wünschte, es wäre so. Es klingt überspannt, ich weiß, aber ich habe beobachtet, wie das Bild gleichsam durch Sie hindurchgegangen ist, wie in einer Welle. Als wäre es in diesem Augenblick ein Teil von Ihnen geworden. Und Sie ein Teil von ihm. Ach, Entschuldigung, ich sollte jetzt besser gehen.« Eilig packte er das Bild wieder ein. »Danke vielmals für Ihre Zeit und Ihre Aufrichtigkeit. Ich bin für beides sehr dankbar.«
Julius fasste den jungen Mann am Arm. Rachmann hielt inne. »Bleiben Sie noch«, sagte Julius. »Bleiben Sie, und ich sage Ihnen, was genau ich gesehen habe.«
Sanft nahm er Rachmann das Bild aus der Hand und legte es auf den Schreibtisch. Dann trat er ans Bücherregal am Fenster, suchte kurz und zog dann einen dicken Band heraus. Nach einigem Blättern fand er eine Farbabbildung von Trübners Kloster auf der Herreninsel.
»Trübner war der malerischste aller Maler«, sagte er. »Er war der Ansicht, die Schönheit eines Gemäldes liege nicht in seinem Sujet, sondern in der Komposition, den Farben und der Textur des Farbauftrags. Kunst um der Kunst willen. Sehen Sie hier, in Ihrem Bild, wo der Baum umgearbeitet wurde? Ein derartiger Pfusch wäre ihm unerträglich gewesen.«
Rachmanns Entschlossenheit, seine Gefühle im Zaum zu halten, verkrampfte ihn so sehr, dass er fast wütend wirkte. »Dadurch haben Sie es herausgefunden, durch diesen Baum?«
»Nicht sofort, nein. Doch, der Baum ist schon wichtig, auch hier, die fehlerhafte Perspektive, wenn man das sieht, weiß man, dass Trübner dieses Bild niemals gemalt haben kann, aber das erkennt man erst später. Zuerst ist da etwas anderes, etwas Instinktiveres. Stellen Sie sich vor, Sie treffen einen alten Freund auf der Straße. Er sieht genauso aus, wie Sie ihn in Erinnerung haben, er lächelt und spricht so, wie er es immer getan hat, aber er ist es nicht. Sie wissen das. Später vielleicht können Sie sagen warum, seine Stimme war zu hoch, seine Nase zu lang, aber in diesem einen Moment wissen Sie nur eines sicher, nämlich dass Sie getäuscht werden. Ihr Bauchgefühl sagt Ihnen: Wer immer dieser Mann sein mag, er ist nicht mein Freund.« Julius seufzte. »Tut mir leid. Ich wünschte, es wäre anders.«
»Ich weiß. Danke.«
Ein Blitz erhellte plötzlich den Raum, darauf ein Donnergrollen. In der Luft hing der metallische Geruch von Regen. Julius schloss das Fenster.
»Etwas zu trinken, bevor Sie gehen?«, sagte er, aber Rachmann schüttelte den Kopf. Er habe noch eine andere Verabredung, und wenn er nicht bald aufbreche, verspäte er sich. Zögerlich läutete Julius nach Frau Lang. Mit einer Verbeugung nahm Rachmann von ihr Hut und Regenschirm entgegen. Seine Galanterie ließ sie kalt. Als er sich abwandte, zog sie einen Schmollmund und rollte die Augen, bis Julius ihr einen strafenden Blick zuwarf. Die Grimasse verschwand von ihrem Gesicht wie bei einem ertappten Kind.
Rachmann sah auf das Gemälde in seinen Armen und hielt es plötzlich mit einem bitteren Grinsen Julius entgegen. »Ich kann Sie wohl nicht für einen Fast-Trübner interessieren, oder? Etwas für den blanken Nagel in Ihrem Arbeitszimmer?«
Es braucht schon besonderen Mut, dachte Julius, eine Katastrophe so leicht wegzustecken. »Tut mir leid, dass ein solches Ergebnis herausgekommen ist«, sagte er. »Ich hoffe, es ist keine ernste Schlappe.«
»Ich auch.«
Verlegenes Schweigen. Dann schüttelte Rachmann den Kopf. »Vielleicht sollte ich das Ihnen gegenüber nicht zugeben, aber irgendwie würde ich mir wünschen, ich hätte die Nerven, es dreist zu verhökern. Die ganzen Aasgeier dort draußen, die sich für Kleingeld die deutschen Schätze unter den Nagel reißen. Es wäre doch das Vergnügen wert, einen von denen eins auszuwischen, oder?«
»Ja, aber nicht halb so viel wie das Risiko, das Sie dafür eingehen müssten.«
»Ach, Skrupel«, sagte Rachmann, und sein Lachen war mehr ein Seufzen. »Was wären wir bloß ohne Skrupel?«
»Ja, was wären wir dann?«
Frau Lang öffnete die Tür. Der Wind blies Regen auf die Eingangsterrasse, sodass sich dunkle Flecken auf dem Steinboden abzeichneten. Rachmann trat hinaus und öffnete den Schirm.
»Guten Abend, Herr Köhler-Schultz. Und danke.«
»Ich wünschte nur, es hätte etwas gegeben, wofür Sie mir danken könnten.«
»Alle haben mir gesagt, dass sich in Berlin niemand mit einem Grünschnabel wie mir abgeben würde. Aber Ihre Großzügigkeit, Ihre Sachkenntnis, ein Mann von Ihrem hohen Renommee …«
»Hohes Renommee, gütiger Himmel, das klingt, als sei ich schon hundert Jahre alt.«
Rachmann zuckte zusammen. »Schmeichelei bringt mich nicht weiter, soll es das heißen? Diese verdammten Skrupel. Aber, um das festzuhalten: Es ist keine Schmeichelei, wenn es die Wahrheit ist.«
Der junge Mann drehte sich um. Du nimmst Komplimente entgegen wie ein Pfandleiher eine Armbanduhr, hatte Luisa einmal zu Julius gesagt, als würdest du dem anderen eine Gnade erweisen. Er lief, Rachmann folgend, die Treppe hinab und erhaschte für einen kurzen Moment seinen Blick, eine trübe Grimasse aus Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. Julius hätte ihn am liebsten zurückgeholt. Stattdessen aber sah er zu, wie Rachmann den Weg entlangging. Die Regentropfen prasselten auf seinen Schirm und spritzten in silbrigen Teilchen durch die dunkle Nacht.
»Sehen Sie sich nur an, Sie sind ja ganz nass«, schimpfte Frau Lang und schob ihn zurück ins Haus. »Bestimmt tut Ihnen jetzt ein Tee gut.« Sie eilte davon. Als sie die Tür zum Dienstbotentrakt aufstieß, erhaschte Julius einen kurzen Blick auf den schwarzen Kinderwagen.
»Wenn die Klage zu Ihren Gunsten entschieden wird, kommt Ihr Sohn natürlich in Ihre Obhut«, hatte Böhm tags zuvor gesagt. »Aber vielleicht nicht sofort. Schuldig oder nicht, die meisten Gerichte lassen das Kind heutzutage lieber bei der Mutter, bis es zumindest vier Jahre alt ist.«
Der Junge und das Kindermädchen hatten das oberste Stockwerk bewohnt. Es galt ein streng eingehaltener Tagesablauf. Julius wusste nicht, womit genau sie ihren Tag verbracht hatten. Er hatte keine Veranlassung gesehen, sich dafür zu interessieren.
»Ich will meinen Sohn«, hatte er Böhm trotzig erklärt, und zum ersten Mal fragte er sich, ob das wirklich stimmte.
IV
Das Unwetter, das in jener Nacht durch die Stadt tobte, war das schlimmste, das Berlin seit Jahrzehnten erlebt hatte. Abends bildete der Regen förmlich eine Wasserwand, er hämmerte auf den von der Sonne ausgedörrten Boden und ging peitschend auf die Blumen in ihren Rabatten nieder. In der Staatsoper, wo Julius eine Aufführung von Strauss’ Elektra besuchte, hallte der Donner in den Musikpausen wie eine Kesselpauke. Als er nach Hause kam und vom Taxi geduckt zur Eingangstür lief, schien der Sturm das ganze Gebäude erfasst zu haben. Die Wände zitterten, und der Wind rüttelte an den Fenstern in ihren Rahmen. Im Arbeitszimmer goss sich Julius ein Glas Cognac ein und beobachtete, wie die Bäume im Garten hin und her schwankten, dunkle Silhouetten vor der Schwärze der Nacht. Als ein Blitz den Himmel entzweiriss, leuchtete die leere Wand grell auf.
Kurz vor Morgengrauen legte sich der Sturm schließlich, aber der Regen hielt