Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark

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Im gleißenden Licht der Sonne - Clare  Clark


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benötigen wir Beweise. Sonst wird das Gericht die Klage abweisen.«

      Julius dachte an Frau Lang, an das Entsetzen auf ihrem Gesicht, als sie ihre Augen bedeckt hatte. »Es gibt eine Zeugin. Meine Haushälterin. Sie hat alles gesehen.«

      »Ausgezeichnet«, sagte Böhm, und Julius nickte, starr vor Siegesfreude und Selbstekel.

      Rachmann wirkte müde und erschöpft, mit seiner schlanken Gestalt sah er nun strenger und zugleich fragiler aus. Die scharfen Konturen seiner Wangenknochen betonten seine verblüffend grünen Augen und die wie von Botticelli gemalten fülligen Lippen. Im Arbeitszimmer blickte er auf die leere Wand.

      »Ein Selbstbildnis von van Gogh«, sagte Julius. »Vielleicht das schönste, das er je gemalt hat.«

      »Sie haben es ausgeliehen?«

      »So in etwa.«

      Rachmann schüttelte den Kopf. »Sie mögen mich für töricht halten, aber irgendwie war ich davon überzeugt, der Marées würde hier hängen. So sehr, dass ich eben beim Hereinkommen zuerst dachte, man hätte ihn gestohlen.«

      Gestohlen. Das Wort hing in der schwülen Luft. »Er fehlt Ihnen, der Marées?«, fragte Julius.

      »Ja, schrecklich. Ist das nicht lächerlich?«

      »Sie müssen sich daran gewöhnen.«

      »Und ich hatte mir ein glückliches Leben erhofft.«

      »Als Händler? Keine Chance.«

      Rachmann lachte. Es war noch früh, aber draußen wurde es bereits dunkel. Ein Unwetter zog auf. Vor dem Hintergrund der bedrohlichen Gewitterwolken wirkten die Bäume wie von van Gogh gemalt, dicke Wirbel aus Weiß und Smaragdgrün.

      »Also haben Sie ihn behalten?«, fragte er und versuchte, dabei beiläufig zu klingen. »Den Marées, meine ich.«

      »Natürlich.«

      »Da bin ich froh. Ich hatte plötzlich Angst, Sie hätten ihn schon vor Wochen verkauft.«

      »Ich habe ihn nicht verkauft. Er ist oben in meinem Ankleidezimmer.«

      Rachmann nickte und nestelte an den Bändern der Künstlermappe, die er bei sich trug. Er sagte nichts. Das war auch nicht nötig. Julius konnte es fast hören, dieses tiefe Summen des Verlangens wie das einer Biene in einem Blütenkelch. Natürlich verbot es sich zu fragen. Kein anderer Raum im Haus war so privat wie sein Ankleidezimmer. Herr im Himmel, Ju, warum musst du immer so eine Trantüte sein? Trantüte, eines der Worte aus Luisas Jargon für Langweiler. Sie hatte Hunderte davon: Schlaftablette, trübe Tasse, lahme Ente, Schnarchnase, Spaßbremse, alter Spielverderber. Alter irgendwas.

      »Vielleicht wollen Sie ihn sehen?«, fragte er plötzlich.

      Rachmann blickte ihn groß an. »Bitte, Sie müssen das nicht, das ist … macht es Ihnen wirklich nichts aus?«

      »Nicht das Geringste.«

      Er führte den jungen Mann die Treppe hinauf. Oben angekommen blieb er, ein wenig außer Atem, stehen. Rachmann betrachtete die hohe Galerie, die ausnehmend schön mit Intarsien verzierte Doppeltür, die in den Salon führte. Wenn Luisa zu Hause war, hatten sich ihre Freunde am liebsten hier versammelt, dann lehnten sie sich über die Balustrade, während die Musik aus dem Grammophon plärrte, johlten sie und schnippten ihre Zigarettenasche hinunter in die Halle. Aber jetzt war die Tür verschlossen. Seit sie fort war, hatte Julius den Salon nicht mehr betreten.

      Im Ankleidezimmer roch es nach Leder, Seife und – ganz schwach, aber unverkennbar – nach ihm selbst. Während sie vor dem Marées standen, fielen Julius mit leisem Unbehagen die ausgebeulten Lederpantoffeln unter dem Stuhl auf, die Zahnbürste mit den abgenutzten Borsten im Becher neben dem Waschbecken, der seidene Morgenmantel am Haken auf der Rückseite der Tür. Aus ihrem Silberrahmen lächelte ihnen seine Mutter mit sanft geneigtem Kopf scheu entgegen. In ihrem Abendkleid und mit den Diamanten im Haar sah sie jung, ein wenig verlegen und unfassbar schön aus. Julius bemerkte, wie Rachmann sie verstohlen betrachtete, das Lächeln in seinen meerglasgrünen Augen wurde intensiver, und es war, als habe er den jungen Mann in sein Innerstes blicken lassen.

      Als sie wieder im Arbeitszimmer waren, hatte Julius das Gefühl, dass sie die Intimität des Ankleidezimmers mitgenommen hatten, sie schien wie ein Strom zwischen ihnen zu fließen und die Atmosphäre zu verwandeln. Am liebsten hätte er Rachmann jetzt gefragt, ob dieser genug Geld und ausreichend zu essen habe. Er wollte ihm seine Einsamkeit gestehen, seine Angst vor dem Altwerden, seinen bitteren Hass auf seine Frau und auf den Menschen, zu dem er ihretwegen gerade geworden war. Stattdessen deutete er auf das sorgfältig verpackte Gemälde.

      »Erzählen Sie mir davon«, sagte er.

      Rachmann legte die Mappe auf seinen Schoß und betrachtete sie stirnrunzelnd. »Ich habe das Bild in Köln gekauft. Nicht von einem Händler. Sondern bei einem Mann von der Straße.«

      Julius verstand. Heutzutage gab es in Berlin an jeder Straßenecke solche Männer, und auch Frauen, in schäbiger, einst achtbarer Kleidung, die ihre Familienerbstücke in Sackleinen eingeschlagen feilboten, gegen Lebensmittel und Kohle.

      »Er behauptete, sein Vater und Trübner seien befreundet gewesen«, sagte Rachmann. »Sie hätten sich in Karlsruhe kennengelernt. Sein Vater hat das Bild sein ganzes Leben lang in seinem Arbeitszimmer hängen gehabt. Ich wollte es ihm nicht wegnehmen, es fühlte sich ganz falsch an, aber er war so dankbar, so verzweifelt. Er sagte, ich würde ihm damit sehr helfen. Natürlich gibt es keine schriftliche Expertise für das Bild, keinen eigentlichen Herkunftsnachweis …«

      Julius schüttelte den Kopf. »Der Herkunftsnachweis ist bei weitem nicht so wichtig, wie die Erbsenzähler einem einreden wollen. Um ein Bild einem Maler zuzuschreiben, geht man nicht vor wie ein Buchhalter.« Er setzte die Brille auf und deutete Richtung Fenster. »Halten Sie es dorthin. Wir brauchen so viel Licht, wie wir kriegen können.«

      Eine Fälschung. Julius sah es auf den ersten Blick oder, besser, er spürte es, die vertraute Enge in seiner Kehle, den klammen Schauer auf der Haut, das Magengrimmen wie bei einer Seekrankheit, als würde ihm der Boden unter den Füßen entzogen. Als könnte die Falschheit des Bildes den Boden umwenden.

      Er schloss die Augen und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Die Schwärze hinter seinen Lidern, silbrig durchzogen, machte ihn schwindlig. Sein Mund war trocken. Er leckte sich die Lippen. Langsam wich die Übelkeit. Er sah Rachmann nicht an. Stattdessen setzte er die Brille ab und begann, sie mit einem Tuch aus seiner Hosentasche sorgfältig zu putzen. Allmählich erlangten seine Hände wieder ihre Festigkeit zurück. Mit dem Taschentuch bearbeitete er den Rand der Brillengläser. Als er sich vergewissert hatte, dass sie vollkommen sauber waren, setzte er die Brille wieder auf und betrachtete das Bild noch einmal. Bäume, Himmel, eine angedeutete Fassade im italienischen Stil, alles in Trübners charakteristischem Malstil, aber ohne seinen Instinkt für Farben, sein Spiel von Licht und Schatten. Eine Naturvorstellung, reduziert auf eine Ansicht, dekorativ und leblos.

      Er legte die Fingerspitzen aneinander, um Mut zu fassen, es auszusprechen.

      »Es ist kein Trübner, stimmt’s?«, fragte Rachmann sehr leise.

      »Nein. Kein Trübner. Tut mir leid.«

      Die meisten Händler reagierten mit Abwehr, wenn er sie enttäuschte, oder wurden sogar aggressiv. Sie zogen seine Schlussfolgerungen in Zweifel, verlangten, er solle es noch einmal überdenken. Der junge Mann hingegen klammerte seine Hände ineinander und schwieg. Nur seine weißen Fingerknöchel verrieten ihn.

      »Sie können das Bild jederzeit noch jemand anderem zeigen«, sagte Julius. »Eine zweite Meinung einholen. Walter Ruthenberg ist verlässlich, kennen Sie ihn?«

      »Käme er zu einem anderen Urteil?«

      »Wäre möglich.«

      »Aber dann läge er falsch?«

      »Meiner Meinung nach ja, fürchte ich.«

      Wortlos blickte Rachmann auf das Bild. Julius hätte am liebsten tröstend


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