Der Kaiser. Geoffrey Parker
Читать онлайн книгу.Eskapaden an den Höfen interessierten, an denen sie residierten.9 Doch teilt Karl selbst zu diesem Punkt einige Details mit, gleich in seinem ersten erhaltenen Brief von eigener Hand, den er im Januar 1518 an Heinrich von Nassau, den Oberbefehlshaber seiner Truppen in den Niederlanden, schrieb (Abb. 8). Bereits die umstandslose Anrede (»Henri«) ließ eine ungezwungene Vertraulichkeit zwischen den beiden Briefpartnern erkennen, genauso Karls Behauptung, er habe »so viele Briefe von Euch erhalten«, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, auf alle »mit meiner eigenen schönen Hand« zu antworten, trotz Heinrichs Drohung, wenn er nicht eigenhändig zurückschreibe, werde Karl als »des Teufels Beute« enden. Karl erklärte deshalb, er werde »als Erstes auf Euren närrischen Brief (fole lettre) antworten, da ja jeder am liebsten von dem erzählt, was er am liebsten mag«, und scherzte dann über die Liebesabenteuer einiger seiner Höflinge. Als Nächstes ließ er einen Schwall von Beschwerden über Spanien auf Heinrich einprasseln: wie sehr ihm die niederländischen Fischspezialitäten fehlten, wie sehr er sich nach einem vernünftigen Glas Wein verzehrte und wie »überaus verdrossen ich darüber bin, dass ich meinen Heinrich nun nicht mehr sehe (je suis bien mary de ne plus voir mon Henry)«. Vor allem aber fehlten ihm die »hübschen Damen (belles dames), denn die findet man hier kaum – obwohl ich glaube, dass ich eine gefunden habe, die mir gefällt … Sie macht nicht viel her, trägt immer ein Fingerdick Schminke«, fuhr er wenig galant fort, aber »wenn die Dame willens ist, werde ich sie leichter und billiger bekommen als dort drüben«. Offenbar war er erfolgreich, denn wie Laurent Vital berichtet, der über zehn Jahre als Karls Kammerdiener fungierte, »eroberte und besaß« Karl zu der damaligen Zeit »durch Liebe eine Dame (avoit conquis et fait une dame par amour)«. Wer mag jene Dame gewesen sein? Einzig und allein der Botschafter Thomas Spinelly liefert uns zumindest eine Teilantwort, teilte er doch Karls Onkel Heinrich mit, dass »der König in amouröser Verbundenheit zu einer feinen Hofdame der Königin von Aragón« stand (von Germaine de Foix also, Karls Stiefgroßmutter).10
Kein anderer Diplomat, Minister oder Chronist scheint die fragliche Dame erwähnt zu haben, und das Schweigen all dieser Herren mag überraschen – aber andererseits hatte kaum einer von ihnen überhaupt etwas Nennenswertes über den jungen Karl zu berichten. In Sancho Cotas Memorias findet sich nur ein einziger Hinweis darauf, dass Karl vor seiner Abreise nach Spanien einer Frau gegenüber die Initiative ergriff: Eines Tages – mit ziemlicher Sicherheit war es im Winter 1515/16 – »beschloss [er], dass er einen Wappenspruch haben sollte wie andere Fürsten auch, und so nahm er seinen Dolch und ritzte in eines der Fenster in seinen Gemächern in Brüssel die folgende Devise: ›Plus oultre‹«, also: »Immer weiter«.11 Dieses Motto, das beinahe sofort mit den beiden Säulen des Herkules (und deren Durchschreiten westwärts) in Verbindung gebracht wurde, hatte die doppelte Bedeutung, dass Karl nicht nur die geografischen Grenzen früherer Reiche hinter sich lassen wollte, sondern auch die Tapferkeit, den Ruhm und die Glorie der Helden des Altertums. Der Wahlspruch fand rasch Anklang: Bereits im Oktober 1516 zitierte Karls Leibarzt und Ratgeber Luigi Marliano ihn in einer Rede, die er vor einer Versammlung aus Rittern vom Goldenen Vlies hielt. Marliano stachelte den jungen König dazu an, »ein neuer Herkules, ein neuer Atlas« zu werden, und im Jahr darauf prangten das Motto und die unvermeidlichen Säulen an prominenter Stelle auf dem Großsegel des Schiffes, mit dem Karl nach Spanien fuhr.12 Eine lateinische Variante, »Plus ultra«, erschien auf der Rückseite des Gestühls, in dem Karl bei der nächsten Kapitelversammlung des Ordens in Barcelona saß – und später noch an tausend anderen Stellen. Obwohl Cota uns nicht verrät, woher Karl die Inspiration für seinen Wahlspruch nahm – der ja persönlich, heroisch und ritterlich zugleich wirkte –, ist hier vermutlich an den Recueil des Histoires de Troye zu denken, den einst Herzog Philipp der Gute von Burgund in Auftrag gegeben hatte. Karl der Kühne besaß eine reich illuminierte Handschrift dieser Sammlung von Troja-Geschichten, die in der herzoglichen Bibliothek verwahrt wurde, und seine Ehefrau Margarete von York, die erste Erzieherin des jungen Karl, schätzte den Recueil so sehr, dass sie ihrerseits eine Übersetzung ins Englische anfertigen ließ. Bis 1516 dürfte Karl den Text mehrere Male vorgelesen bekommen haben – und damit auch die Worte der Inschrift, die angeblich an einer der Säulen des Herkules aufgefunden worden waren: »Geht nicht weiter, wenn ihr Land erobern wollt«, wobei sich in der vollständigen französischen Version die beiden Wörter plus und oultre verbargen.13
Wie vor ihm schon Cota, so fiel Laurent Vital zu dem jungen König Karl nicht viel Denkwürdiges ein. Ein ganzes Kapitel seiner Chronik von Karls »Erster Reise nach Spanien« widmete er den »guten Sitten, die Gott unserem Herrn, dem Katholischen König, hat zuteilwerden lassen«, vermochte dann aber nur wenige Beispiele zu nennen, außer dass der König »das Fluchen nicht ausstehen konnte«, dass er »wahr sprach und gerecht handelte« sowie »Schmeichler und Ausplauderer zutiefst hasste«. Konkret hatte Vital nur einen einzigen Beleg für Karls »gute Sitten« vorzuweisen: Er berichtet, wie der zwölfjährige Karl einmal »einen seiner alten Diener« tadelte, weil dieser schlecht von einem anderen gesprochen hatte, dessen Entlassung er so provozieren wollte.14
Zweifellos spiegelt das Fehlen von Berichtenswertem den Umstand wider, dass der junge König nur selten einmal etwas Außergewöhnliches tat oder sagte. In seiner detaillierten Schilderung der langen Reise von Gent nach Saragossa – sie dauerte neun Monate – gibt Vital nur eine einzige längere Unterhaltung wieder: Und selbst die ist eine belanglose Plauderei darüber, wie Essen und Trinken unter den Schiffen der königlichen Flotte aufzuteilen seien, als diese unterwegs einmal in eine Flaute geraten waren. Di Beatis, der seine Beobachtungen unmittelbar vor Beginn der Seereise zu Papier brachte, hielt fest, dass »Seine Majestät gleich nach dem Mittag- oder Abendessen einem jeden gnädig Audienz gewährte, dort, wo er saß, am Kopf des Tisches«, obgleich dabei »Seine Majestät nicht sprach«. Auch Corner stellte fest, dass Karl »bei Audienzen und Unterredungen nur wenig spricht«. Stattdessen »lässt er den Großkanzler oder einen anderen anwesenden Minister antworten, und wenn er doch spricht, dann um zu sagen, dass er die Angelegenheit dem Großkanzler übertragen oder an M. de Chièvres oder jemand anderen weiterleiten wird, je nachdem, wie wichtig die Angelegenheit gerade ist«.15
Wiederholt bezeichneten Corner und auch andere Diplomaten Chièvres als »alter rex« – einen »zweiten König« –, während Erasmus bemerkte, dass Chièvres’ »geringstes Wort Gesetz ist«. Vital rechtfertigte die Bereitwilligkeit, mit der Karl »den Ratschlag von Älteren schätzte und bevorzugte«, unter Verweis auf ein abschreckendes Beispiel aus dem Alten Testament: den Fall Jeroboams, »der aus seinem Königreich vertrieben wurde, weil er die Alten und Weisen mit Verachtung strafte und stattdessen den Jungen und Törichten sein Ohr schenkte«.16 Andere waren weniger wohlwollend. Ein spanischer Gesandter meldete im Jahr 1516, Karl werde »herumkommandiert und kennt nichts anderes, weiß auch nichts anderes zu sagen als das, was ihm seine Räte einflüstern und vorsagen. Er folgt diesen Ratgebern ganz und ist vollkommen an sie gebunden.« Im Jahr darauf behauptete ein venezianischer Diplomat, Karl »spreche wenig und sei auch kein Mann von großem Verstand«; zwei andere erklärten, dass sie »bei drei Gelegenheiten, zu denen sie ihn getroffen hatten, ihn nie auch nur ein einziges Wort hatten reden hören, da sämtliche Angelegenheiten von seinen Ratgebern besprochen und entschieden wurden«; und ein englischer Diplomat äußerte mit brutaler Deutlichkeit die Ansicht, dass »der König von Kastilien bloß ein Idiot und seine Ratgeber allesamt korrupt« seien.17
Das war offenkundig nicht ganz fair. Laurent Vital wusste genau, warum sich Karl und seine Regenten so und nicht anders verhielten: Sie mussten »aus einer Not eine Tugend machen«, hatten sie doch eigentlich inakzeptable Zugeständnisse zu machen, wollten sie einen Krieg vermeiden und »den Besitz dieses Waisenprinzen bewahren«, bis der ein Alter erreicht hatte, in dem er »seine Rechte« erfolgreich selbst »verteidigen« konnte. Chièvres bereitete den Prinzen schon auf diesen Tag vor, und er tat es so vorsichtig wie umsichtig. Martin du Bellay, ein französischer Diplomat, dem gewiss nicht daran gelegen war, den Hauptrivalen seines eigenen Herrn grundlos zu rühmen, berichtete über seinen Aufenthalt an Karls Hof im Jahr 1515: »Alle Dossiers und Akten, die aus den verschiedenen Provinzen eingehen, legte man dem Prinzen persönlich vor, selbst des Nachts, und nachdem er sie genau gelesen hatte, erstattete er selbst seinem Rat Bericht über ihren Inhalt, und dann wurde in seinem Beisein über alles beraten.« Als einer von Du Bellays Kollegen sich verwundert darüber zeigte, dass Chièvres