David Copperfield. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.aber aus der Unsicherheit meiner Erinnerung vermute ich, daß ich erst sechs und später sieben erhielt. Er bezahlte mich eine Woche im voraus – aus seiner Tasche glaube ich, – und ich gab davon dem Kartoffelkloß eine Sixpence, damit er meinen Koffer abends nach Windsor Terrace trage, weil ich ihn, so klein er war, doch noch nicht tragen konnte. Fernere Sixpence zahlte ich für mein Mittagessen, das in einem Stück Fleischpudding und in einem Trunk aus dem nächsten Brunnen bestand und verbrachte die Stunde, die für die Mahlzeit freigegeben war, mit Herumschlendern durch die nächsten Straßen.
Abends zur bestimmten Stunde stellte sich Mr. Micawber ein. Ich wusch mir Hände und Gesicht, um mich mit seiner Vornehmheit in größeren Einklang zu bringen, und wir gingen zusammen nach »unsrer« Wohnung, wie ich wohl sagen kann. Unterwegs machte mich Mr. Micawber auf die Namen der Straßen und das Aussehen der Eckhäuser aufmerksam, damit ich am andern Morgen wieder den Rückweg finden könnte.
In seinem Hause in der Windsor-Terrasse angekommen; das, wie ich bemerkte, ebenso schäbig war wie er, aber auch wie er soviel wie möglich auf äußern Schein hielt, stellte er mich der Mrs. Micawber vor, einer dünnen und welken und durchaus nicht mehr jungen Dame, die, mit einem Kinde an der Brust, in der Wohnung im ersten Stock saß, denn das ganze Parterre war gar nicht möbliert: die Vorhänge waren aber schlauerweise heruntergelassen, um die Nachbarn zu täuschen. Der Säugling gehörte zu einem Zwillingspaar; und ich will gleich hier bemerken, daß ich während meiner ganzen damaligen Bekanntschaft mit der Familie schwerlich jemals die Brust der Mutter ohne einen der Zwillinge sah. Mit einem der Kinder war sie stets beschäftigt, um es zu nähren.
Außerdem waren noch zwei andere Kinder vorhanden: Master Micawber, etwa vier, und Miß Micawber, etwa drei Jahre alt. Dazu kam noch ein junges, schwarzes Dienstmädchen, das beständig den Stockschnupfen zu haben schien und als Waise aus dem benachbarten St. Lukas-Armenhause stammte. Mein Zimmer war unter dem Dache nach dem Hofe hinaus, klein und schmal, weiß und blau gemalt mit Ornamenten, die für meine kindliche Phantasie eine Reihe von Semmeln bildeten, und sehr dürftig möbliert.
»Ich hätte nie gedacht,« sagte Mrs. Micawber, als sie mit den beiden Zwillingen herauf kam, um mir meine Behausung zu zeigen, und sich setzte, um Atem zu schöpfen, – »ich hätte nie geglaubt, ehe ich heiratete und noch bei Papa und Mama war, daß ich einmal an fremde Leute würde vermieten müssen. Aber da Mr. Micawber in Bedrängnis ist, müssen alle Rücksichten auf selbstische Gefühle vergessen werden.«
Ich sagte: »Jawohl, Madame!«
»Mr. Micawbers Bedrängnisse sind in diesem Augenblick gerade fast erdrückend,« fuhr Mrs. Micawber fort, »und ob es möglich sein wird, ihn wieder herauszubringen, weiß ich nicht. Als ich noch zu Hause war bei Papa und Mama, verstand ich kaum, was das Wort in dem Sinne zu bedeuten hat, in dem ich es jetzt gebrauche, aber experientia ist die beste Lehrmeisterin – wie Papa zu sagen pflegte.«
Ich weiß nicht mehr recht, ob sie mir sagte, daß Mr. Micawber Marineoffizier gewesen wäre, oder ob ich es mir nur einbildete. Ich weiß nur noch, daß ich bis zu dieser Stunde glaube, daß er einmal bei der Marine gewesen ist, ohne einen Grund für diese Annahme anführen zu können. Gegenwärtig war er eine Art Stadtreisender für verschiedene Häuser, machte aber, wie ich fürchte, wenig oder gar keine Geschäfte dabei.
»Wenn Mrs. Micawbers Gläubiger nicht warten wollen,« sagte Mr. Micawber, »so müssen sie die Folgen tragen; und je eher desto besser. Blut läßt sich aus keinem Steine pressen, und auf Abschlag kann Mr. Micawber jetzt nichts bezahlen, von Gerichtskosten ganz abgesehen.«
Ich weiß nicht, ob meine frühreife Selbständigkeit Mrs. Micawber über mein Alter irre machte oder ob die Sache sie so sehr erfüllte, daß sie davon sogar den Zwillingen erzählt hätte, wenn sie niemand anders gehabt hätte – aber in diesem Tone fing sie an und redete weiter, während der ganzen Zeit unseres Zusammenwohnens.
Die arme Mrs. Micawber! Sie habe sich keine Mühe verdrießen lassen, sagte sie; und daran zweifle ich nicht. Die Haustür war halb verdeckt von einer großen Messingplatte mit der Aufschrift: »Mrs. Micawbers Pension für junge Damen«, aber ich erfuhr nie daß sich hier eine junge Dame in Pension gegeben hätte oder angemeldet worden wäre. Die einzigen Besuche, die das Haus empfing, waren Gläubiger.
Diese kamen freilich zu allen Stunden des Tages, und waren manchmal fuchsteufelswild. Ein Mann mit schmutzigem Gesicht – ich glaube, es war ein Schuster – pflegte z. B. schon um sieben Uhr morgens in den Flur zu kommen und die Treppe hinaufzurufen: »Mr. Micawber! kommen Sie nur heraus! Ich weiß, daß Sie noch zu Hause sind! Wollen Sie mich bezahlen – he?! Verstecken Sie sich nur nicht! Das ist gemein und erbärmlich! Pfui, schämen Sie sich was! Wollen Sie bezahlen?! Hören Sie?!! Heraus mit Ihnen!« Als er auf solche Stachelreden keine Antwort erhielt, verstieg er sich in wachsendem Zorne zu »Schwindler!« und »Räuber!« und wenn auch diese Kraftausdrücke wirkungslos blieben, ging er in seiner Wut manchmal so weit, sich auf der Straße gegenüber Mr. Micawbers Wohnung hinzupflanzen und zu dessen Fenstern im zweiten Stocke hinaufzubrüllen, wo, wie er wußte, sein Schuldner wohnte. Dann konnte Mr. Micawber vor Gram und Aufregung dazu gebracht werden – worauf ich einmal durch einen Schrei Mrs. Micawbers aufmerksam gemacht wurde – sich mit dem Rasiermesser nach der Gurgel zu fahren, wenn er auch eine halbe Stunde später mit minutiösester Sorgfalt seine Stiefel putzte und ausging, und mit weltmännischer Gelassenheit eine muntere Arie trällerte. Ganz so elastisch war auch Mrs. Micawber. Ich habe es erlebt, daß sie um drei Uhr Ohnmachtsanfälle bekam, wenn der Steuerbote erschien – und daß sie um vier Uhr mit bestem Appetit panierte Lammsrippchen aß und warmes Ale dazu trank, was mit dem Erlös für zwei zum Pfandleiher gewanderte Teelöffel bezahlt war. Eines Tages, an dem ich zufällig schon um sechs Uhr nach Hause gekommen war, fand ich sie, nachdem eben eine Pfändung stattgefunden hatte, unter der Herdnische in Ohnmacht liegen (natürlich mit einem Zwilling an der Brust), das Haar wild zerrauft, und noch denselben Abend erzählte sie mir, so heiter wie noch nie, mit einem Kalbskotelett am Herdfeuer beschäftigt, Geschichten von ihrem Papa und ihrer Mama und von den Gesellschaften, die sie zu geben pflegten.
In diesem Hause, bei dieser Familie verbrachte ich meine freie Zeit. Mein eigenes Frühstück, bestehend aus einem Groschenbrötchen und Milch für einen Groschen, besorgte ich mir selbst, ebenso reservierte ich mir auf einem bestimmten Brett eines bestimmten Schrankes ein anderes kleines Laibchen mit einem bißchen Käse zum Abendessen, wenn ich nach Hause kam. Daß dies schon ein fühlbares Loch in meinen mit sechs oder sieben Schillingen gefüllten Beutel machte, wußte ich wohl: mußte ich mich doch mit dieser Summe die ganze Woche beköstigen! Kurz – von Montag früh bis Sonntag abends spät keinen Rat, keine Ermunterung, keinen Trost, keine hilfreiche Hand irgend einer Art von irgend jemand. Und das ist die Wahrheit, so wahr ich selig zu werden hoffe! Ich war so jung und kindisch und so wenig geeignet, ohne Beaufsichtigung für mich zu sorgen (wie hätte es auch anders der Fall sein können), daß ich oft früh, wenn ich zu Murdstone und Grimby ging, dem Anblick des zum halben Preise in einem Konditorladen ausgestellten altbackenen Kuchens nicht widerstehen konnte und dazu das Geld verwendete, das zu meinem Mittagsessen bestimmt war. Dann fastete ich mittags oder kaufte mir ein Brötchen oder eine Schnitte Pudding.
Ich erinnere mich an zwei Puddingladen, die ich abwechselnd mit meiner Kundschaft erfreute, je nach dem Stande meiner Finanzen. Der eine befand sich in einem Hofe dicht hinter der St. Martinskirche, die jetzt abgebrochen ist. Der Pudding von dort war mit Johannisbeeren gefüllt und besonders gut, aber freilich auch teuer, denn für zwei Pence gab es nur so viel, wie wo anders weniger gute Ware für einen Penny. Ein guter Laden für diesen billigern war am Strand in einer Gegend, die heutzutage gleichfalls umgebaut ist. Das war ein schwerer, quadderiger Pudding mit Rosinen darin, aber äußerst dünn gesät. Er war gerade immer warm aus dem Ofen zu haben, wenn ich vorbeikam, und das war so manchen Tag mein ganzes Mittagessen. Wenn ich regelrecht und gut zu Mittag aß, so nahm ich eine gekochte Rindfleischwurst und ein Groschenbrötchen, oder einen Teller Rindfleisch für vier Pence aus einer Garküche, oder Brot und Käse und ein Glas Bier aus einer elenden Winkelkneipe, unserm Geschäft gegenüber, die sich stolz »Zum Löwen« nannte, vielleicht auch gar »Zum goldenen Löwen« – ich habe die genaue Bezeichnung