David Copperfield. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.alle ebenso sehr beachtete wie früher.
Ich sollte am nächsten Abend nach Hause fahren, aber nicht mit der Nachtpost, sondern mit der gewöhnlichen Postkutsche, die man den Landwagen nannte, weil sie meist von Bauern benutzt wurde, die nur kurze Strecken reisten. Das Geschichtenerzählen unterblieb für diesen Abend, und Traddles bestand darauf, mir sein Kissen zu leihen. Ich begriff nicht, was es mir helfen sollte. Aber der arme Kerl hatte sonst nichts herzugeben, außer einen Bogen Papier voll Gerippen, den er mir zum Abschied als Tröster für meinen Schmerz und zum Wiederherstellen meines Seelenfriedens schenkte.
Ich verließ Salemhaus nachmittags und ahnte nicht, dass ich nicht wieder zurückkehren sollte. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch sehr langsam und erreichten Yarmouth erst um zehn Uhr morgens. Ich schaute nach Mr. Barkis aus, aber er war nicht da, und an seiner Stelle erschien am Kutschenfenster ein dicker, kurzatmiger, fröhlich aussehender kleiner alter Mann in schwarzem Anzug, mit fadenscheinigen schwarzen Schleifen an den Kniehosen und einem breitkrempigen Hut und sagte:
»Master Copperfield?«
»Ja, Sir.«
»Wenn Sie mit mir kommen wollen, junger Herr«, und er öffnete die Tür, »so werde ich das Vergnügen haben, Sie heimzubringen.«
Ich gab ihm meine Hand und hätte gern gewusst, wer er wäre. Dann gingen wir in einen Laden in einer engen Gasse, über dem geschrieben stand: Omer, Tuchhändler, Schneider, Hutmacher, Leichenbesorger usw. Es war ein kleiner, dumpfer Laden, voll von fertigen und halbfertigen Kleidern aller Art; am Fenster hingen Filzhüte und Mützen. Wir traten in ein kleines Stübchen hinten, wo drei junge Mädchen eine große Menge schwarzen Stoffes verarbeiteten, der über den ganzen Tisch ausgebreitet war, während kleine Schnitzel davon auf dem ganzen Fußboden verstreut lagen. Es brannte ein starkes Feuer im Ofen und ein erstickender Geruch von warmem schwarzem Krepp erfüllte die Luft.
Die drei Mädchen, die sehr munter und fleißig zu sein schienen, hoben einen Augenblick ihre Köpfe und nähten dann weiter. Gleichzeitig tönte aus einem Arbeitsschuppen auf einem kleinen Hof vor dem Fenster ein taktmäßiges Hämmern herein: rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat, – ohne Unterbrechung.
»Nun«, sagte mein Führer zu einem der drei Mädchen. »Wie weit bist du, Minnie?«
»Wir werden schon rechtzeitig zum Anprobieren fertig sein«, antwortete die Gefragte munter, ohne aufzublicken. »Hab keine Angst, Vater.«
Mr. Omer nahm den breitkrempigen Hut ab, setzte sich nieder und keuchte. Er war so dick, dass er einige Zeit brauchte, ehe er sagen konnte: »Da bin ich froh.«
»Vater«, sagte Minnie lustig, »du wirst dick wie eine Robbe.«
»Ich weiß auch nicht, wies kommt, aber es ist so.«
»Du bist zu bequem, da siehst dus. Du nimmst die Dinge zu leicht.«
»Es hat keinen Zweck, sie anders zu nehmen, mein Herz«, meinte Mr. Omer.
»Nein, wahrhaftig nicht«, gab seine Tochter zur Antwort. »Wir sind alle fröhlich hier, Gott sei Dank, nicht wahr, Vater?«
»Hoffentlich, mein Kind. Da ich jetzt wieder Luft gekriegt habe, will ich diesem jungen Gelehrten Maß nehmen. Wollen Sie so gut sein und mit mir in den Laden kommen, Master Copperfield?«
Ich ging vor Mr. Omer her; nachdem er mir ein Stück Tuch gezeigt hatte, das, wie er sagte, extra superfein sei und für alles andere als für Trauer um Eltern zu fein wäre, nahm er mir Maß und schrieb es in ein Buch.
Während er die Zahlen notierte, wies er auf sein Warenlager und auf gewisse Moden, die eben »aufgekommen« und andere, die wieder »abgekommen« waren.
»Und dabei verlieren wir oft viel Geld«, sagte er. »Die Moden sind wie die Menschen, sie kommen und gehen und niemand weiß, wann, warum und wieso. Meiner Meinung nach ist alles wie das Leben, wenn man es von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet.«
Mir war viel zu kummervoll zumute, als dass ich mich auf das Gespräch, das wohl auch unter anderen Umständen über mein Begriffsvermögen gegangen wäre, hätte einlassen können. Mr. Omer führte mich wieder keuchend zurück in die Stube. Dann rief er eine kleine Treppe hinab: »Bringt den Tee herauf und Butterbrot«, was nach einiger Zeit, währenddessen ich mich umgeschaut und nachgegrübelt, dem Nähen in der Stube zugesehen und dem Hämmern im Hof draußen zugehört hatte, auf einem Präsentierbrett erschien und für mich bestimmt war.
»Ich kenne Sie schon lange, mein junger Freund«, sagte Mr. Omer, während er mir beim Frühstück zusah, von dem ich nur wenig genießen konnte, weil mir die schwarze Umgebung jeden Appetit benahm.
»Wirklich, Sir?«
»Seit Sie auf der Welt sind, fast noch länger. Ich kannte doch Ihren Vater. Er war fünf Fuß neuneinhalb Zoll hoch und liegt fünfundzwanzig Fuß tief in der Erde.«
»Rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat«, klang es draußen im Hofe.
»Er liegt fünfundzwanzig Fuß in der Erde«, sagte Mr. Omer aufgeräumt. »Entweder auf sein oder auf ihr Verlangen, ich weiß es nicht mehr genau.«
»Wissen Sie, was mein kleiner Bruder macht, Sir?« fragte ich.
Mr. Omer schüttelte den Kopf.
Rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat.
»Er liegt in seiner Mutter Armen«, sagte er endlich.
»Ach armer, kleiner Junge, ist er tot?«
»Grämen Sie sich nicht mehr, als Sie müssen«, sagte Mr. Omer. »Das Kind ist tot.«
Meine Wunde brach von Neuem auf. Ich schob das kaum berührte Frühstück zurück, stand auf und legte den Kopf auf den anderen Tisch in einer Ecke des kleinen Zimmers. Minnie räumte hastig auf, damit ich die Trauersachen nicht mit meinen Tränen benetze. Sie schien ein hübsches, gutherziges Mädchen zu sein und strich mir mit sanfter freundlicher Hand das Haar aus dem Gesicht, aber sehr heiter, weil sie fast mit ihrer Arbeit fertig war, und so ganz anders als ich.
Jetzt hörte das Hämmern auf, und ein junger, hübscher Bursche kam über den Hof ins Zimmer. Er hatte einen Hammer in der Hand und den Mund voll kleiner Nägel, die er herausnehmen musste, ehe er reden konnte.
»Nun, Joram«, sagte Mr. Omer, »bist du auch fertig?«
»Allright«, sagte Joram, »fertig, Sir.«
Minnie wurde ein wenig rot, und die anderen beiden Mädchen lächelten.
»Du hast also gestern bei Licht gearbeitet, was? Als ich im Klub war, nicht wahr?« fragte Mr. Omer und kniff ein Auge zu.
»Ja«, nickte Joram. »Da Sie sagten,