David Copperfield. Charles Dickens

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David Copperfield - Charles Dickens


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und noch hart­her­zi­ge­ren arith­me­ti­schen Leit­fa­den her­mach­te. Maß- und Ge­wicht­sta­bel­len pass­ten sich Me­lo­di­en an, wie »Rule Bri­tan­nia« und »Weg mit den Gril­len und Sor­gen«, und gin­gen mir durch ein Ohr her­ein und aus dem an­de­ren wie­der hin­aus.

      Oft konn­te ich das Gäh­nen nicht mehr ver­bei­ßen und nick­te trotz al­ler Vor­sicht ein. Wie er­schreckt fuhr ich dann aus dem heim­li­chen Schlum­mer wie­der auf. Nur sel­ten ver­such­te ich schüch­ter­ne Be­mer­kun­gen und er­hielt nie­mals eine Ant­wort. Wie sehr kam ich mir wie eine Null vor, die nie­mand be­ach­te­te und die doch je­dem im Weg stand, und im­mer war es mir eine Art Trost, wenn mir Miss Murd­sto­ne beim ers­ten Schlag Neun­uhr be­fahl, zu Bett zu ge­hen.

      So schlepp­ten sich die Fe­ri­en hin bis zu dem Mor­gen, wo Miss Murd­sto­ne sag­te: »Heu­te ist der letz­te Tag um«, und mir für die Fe­ri­en die letz­te Tas­se Tee gab.

      Der Ab­schied fiel mir nicht schwer. Ich war in einen Zu­stand von Stumpf­heit ver­fal­len, aus dem mir nur die Hoff­nung auf Steer­forth ein we­nig her­aus­half, wenn auch Mr. Cre­akle hin­ter ihm dräu­te. Wie­der er­schi­en Mr. Bar­kis an der Gar­ten­tür und wie­der sprach Miss Murd­sto­nes war­nen­de Stim­me: »Kla­ra!« als sich mei­ne Mut­ter über mich beug­te, um mir Le­be­wohl zu sa­gen.

      Ich küss­te mei­ne Mut­ter und mein klei­nes Brü­der­chen und war sehr trau­rig. Nicht so sehr die Umar­mung, die in­brüns­ti­ger war als sie sein durf­te, lebt in mei­ner Erin­ne­rung fort als das, was jetzt folg­te.

      Ich saß schon im Wa­gen, als mei­ne Mut­ter mich noch ein­mal rief. Ich sah hin­aus, und sie stand in der Gar­ten­tür al­lein und hielt den Säug­ling em­por, um ihn mir zu zei­gen. Die Luft war kalt und still und kein Haar auf ih­rem Haup­te, kei­ne Fal­te ih­res Klei­des reg­te sich, als sie mich be­redt an­sah und ihr Kind in die Höhe hielt.

      So ver­lor ich sie. So sah ich sie spä­ter in mei­nen Träu­men in der Schu­le – eine stum­me Ge­stalt vor mei­nem Bett, im­mer mit dem­sel­ben be­red­ten Ge­sicht und dem Säug­ling in den Ar­men.

      Ich über­ge­he al­les, was sich in der Schu­le ab­spiel­te bis zu mei­nem Ge­burts­tag im März. Au­ßer dass Steer­forth noch be­wun­de­rungs­wür­di­ger war als je, ist mir nichts im Ge­dächt­nis ge­blie­ben. Er soll­te am Ende des Se­mes­ters aus­tre­ten und kam mir leb­haf­ter und selbst­stän­di­ger vor als je, und da­her noch ge­win­nen­der. Sonst weiß ich nichts mehr. Das große Er­eig­nis, das die­se Zeit für mich aus­zeich­net, scheint alle klei­nen Erin­ne­run­gen ver­schlun­gen zu ha­ben und al­lein üb­rig­ge­blie­ben zu sein. Wie klar ich mich an den Tag er­in­ne­re! Ich rie­che den Ne­bel, der das Haus um­dun­kelt, sehe die Ge­gen­stän­de drau­ßen wie ge­spens­ti­ge Schat­ten hin­durch­schim­mern, ich füh­le mein be­reif­tes Haar sich kalt und feucht an mei­ne Wan­ge kle­ben, ich bli­cke in die däm­mer­haf­te Per­spek­ti­ve der Schul­stu­be hin­ab, wo hie und da ein fla­ckern­des Licht das trü­be Zwie­licht er­leuch­tet und der Atem der Schü­ler sich damp­fend in die kal­te Luft er­hebt, wenn sie sich auf die Fin­ger bla­sen, mit den Fü­ßen auf dem Flur stamp­fend.

      Wir wa­ren nach dem Früh­stück eben vom Spiel­platz her­ein­ge­kom­men, als Mr. Sharp ein­trat und sag­te:

      »Da­vid Cop­per­field soll zum Di­rek­tor kom­men.«

      Ich er­war­te­te ein Ge­burts­tags­ge­schenk von Peg­got­ty, und mein Ge­sicht hei­ter­te sich auf.

      Ei­ni­ge Jun­gen um mich her­um mahn­ten mich, ih­rer bei der Ver­tei­lung der gu­ten Din­ge nicht zu ver­ges­sen, als ich sehr ver­gnügt von mei­nem Plat­ze auf­sprang.

      »Eil dich nicht, Da­vid«, sag­te Mr. Sharp. »Du hast Zeit ge­nug, mein Kind. Eil dich nicht.«

      Der war­me Ton, mit dem er sprach, hät­te mir auf­fal­len müs­sen, aber ich ach­te­te nicht dar­auf.

      Ich eil­te in das Wohn­zim­mer und sah dort Mr. Cre­akle beim Früh­stück sit­zen, Rohr­stock und eine Zei­tung ne­ben sich. Er hielt einen off­nen Brief in der Hand. Ein Ge­burts­tags­korb war nicht da.

      »Da­vid Cop­per­field«, sag­te Mrs. Cre­akle und führ­te mich zum Sofa und setz­te sich ne­ben mich. »Ich habe et­was Be­son­de­res mit dir zu re­den. Ich habe dir et­was mit­zu­tei­len, mein Kind.«

      Mr. Cre­akle, zu dem ich na­tür­lich hin­schiel­te, schüt­tel­te nur den Kopf, ohne mich an­zu­se­hen, und ver­schluck­te einen Seuf­zer mit ei­nem großen Stück But­ter­brot.

      »Du bist noch zu jung, um zu wis­sen, wie die Welt sich mit je­dem Tag ver­än­dert«, sag­te Mrs. Cre­akle, »und wie die Men­schen da­hin­ge­hen, aber wir alle müs­sen dar­an glau­ben, Da­vid, man­che von uns in der Ju­gend, man­che im Al­ter. Man­che ha­ben es das gan­ze Le­ben vor Au­gen.«

      Ich sah sie mit Span­nung an.

      »Be­fan­den sich alle wohl, als du nach den Fe­ri­en von zu Hau­se weg­reis­test?« frag­te Mrs. Cre­akle nach ei­ner Pau­se. »War dei­ne Mama wohl?«

      Ich zit­ter­te, ohne recht zu wis­sen warum, sah sie im­mer noch mit großem Ernst an, konn­te aber nicht ant­wor­ten. Sie fuhr fort:

      »Weil ich dir zu mei­nem größ­ten Kum­mer sa­gen muss, dass dei­ne Mut­ter sehr krank ist, wie ich heu­te Mor­gen er­fuhr.«

      Ein Ne­bel bil­de­te sich zwi­schen Mrs. Cre­akle und mir, und ihre Ge­stalt schi­en einen Au­gen­blick zu schwan­ken. Dann stürz­ten mir die bren­nen­den Trä­nen aus den Au­gen und ich sah sie wie­der deut­lich ne­ben mir sit­zen.

      »Sie ist sehr ge­fähr­lich krank.«

      Jetzt wuss­te ich al­les.

      »Sie ist ge­stor­ben.«

      Sie hät­te es nicht aus­zu­spre­chen brau­chen. Ich hat­te be­reits einen ver­zwei­fel­ten Schmer­zens­schrei aus­ge­sto­ßen und be­griff, dass ich eine Wai­se war in der wei­ten Welt.

      Mrs. Cre­akle be­nahm sich sehr gü­tig zu mir.

      Sie be­hielt mich den gan­zen Tag bei sich im Zim­mer und ließ mich nur manch­mal al­lein. Und ich wein­te, bis ich vor Er­schöp­fung ein­sch­lief, und wach­te auf und jam­mer­te wie­der. Als ich nicht mehr wei­nen konn­te, fing ich an zu grü­beln. Da wur­de mir die Brust noch en­ger und mein Gram schwoll zu ei­nem dump­fen Schmerz an, für den es kei­ne Lin­de­rung gab.

      Und doch flat­ter­ten mei­ne Ge­dan­ken her­um und blie­ben nicht fest an dem Un­glück haf­ten, das mich nie­der­drück­te. Ich dach­te an un­ser Haus, wie es nun ver­schlos­sen und öde wäre. Ich dach­te an das klei­ne Kind­chen, das, wie Mrs. Cre­akle sag­te, seit ei­ni­ger Zeit hin­siech­te und, wie man fürch­te, wohl auch ster­ben wür­de. Ich dach­te an mei­nes Va­ters Grab auf dem Kirch­hof ne­ben un­serm Hau­se, und dass mei­ne Mut­ter jetzt auch bald un­ter dem mir so be­kann­ten Bau­me ru­hen wer­de. Ich stell­te mich auf den Stuhl, als man mich al­lein ge­las­sen, und blick­te in den Spie­gel, um zu se­hen, wie rot mei­ne Au­gen und be­küm­mert mei­ne Züge sei­en. Ich frag­te mich nach ei­ni­gen Stun­den, ob mei­ne Trä­nen wirk­lich ver­siegt wä­ren, wie es der Fall zu sein schi­en. Das schmerz­te mich au­ßer mei­nem Ver­lust am meis­ten, wenn ich an das Nach­hau­se­ge­hen dach­te; – soll­te ich doch dem Lei­chen­be­gräb­nis bei­woh­nen.

      Dann hat­te ich die Emp­fin­dung, als ob mich et­was


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