Sand im Dekolleté. Micha Krämer
Читать онлайн книгу.ging, war sie wie immer mit Martin aufgestanden und in ihren Sportdress geschlüpft, hatte die Laufrunde aber dann doch sehr verkürzt, da ihr einfach die Kraft und der Wille gefehlt hatten. Anstatt am Strand durch den Sand, war sie heute nur über die Straße bis zum Inselflugplatz und wieder zurück gelaufen. Besser als nichts.
Sie erhob sich, ging zur Terrassentür und sah zum Schuppen, neben dem Martin sein Rad für gewöhnlich abstellte. Es war nicht da. Annemarie konnte es nicht gut vertragen, wenn sie nicht wusste, wo Martin steckte. Es lag nicht daran, dass sie ihm nicht traute oder dachte, er könne sie betrügen. Nein, das war es nicht. Martin war auch so gar nicht der Typ Mann für Weibergeschichten. Er war rundum eine treue Seele. Nein, was sie beinahe um den Verstand brachte, war die Panik, ihn zu verlieren. Dass ihm irgendetwas zustoßen könnte. Sie wusste, wie gerne er morgens in der Nordsee baden ging. Dennoch war ihr nie wohl dabei. Sie hatte schon einmal einen Mann an die See verloren. Heiner Hansen, ihr erster Mann, war vor beinahe zwanzig Jahren vor ihren Augen bei einem Sturm von seinem Krabbenkutter in die Fluten gestürzt und ertrunken. Auch Martin hatte ihr schon einmal Kummer bereitet und war einfach so mit einem Herzinfarkt umgefallen. Zum Glück nicht ins Wasser, sondern beim Bier holen vor dem Getränkemarkt. Aber egal. Auf alle Fälle war es daher nicht verwunderlich, dass Annemarie Angst um ihn hatte. Sie trat in den Garten und sog die frische Brise ein, die der Wind von der See herantrieb. Sie vernahm mit einem Mal ein Geräusch, das sie gut kannte, das aber so gar nicht zu einem schönen Morgen passen wollte. Das Brummen eines Helikopters. Sie suchte den Horizont ab. Der Hubschrauber überflog die Insel vom Festland her kommend, drehte eine Runde über dem Strand und setzte dann zur Landung an. Annemarie erkannte, dass es der blau-weiße Hubschrauber der Polizei war. Aber was tat die Polizei vom Festland hier auf der Insel? Hastig rannte sie zurück ins Haus, überlegte kurz und entschied sich dann, bei Lotta anzurufen. Dummerweise ging sie nicht ran. Es bei Martin direkt zu versuchen, war sinnlos, da sein Gerät, wie zumeist morgens, auf dem Küchentisch lag. Als Nächstes versuchte sie es bei Onno.
„Polizeihauptmeister Onno Federsen, Polizeidienststelle Langeoog“, meldete der sich wie immer äußerst korrekt.
„Hallo, Onno, hier ist Annemarie … sag mal, hast du Martin gesehen?“, kam sie sofort zur Sache.
„Du, Annemarie … ja, hab ich … aber das ist jetzt ganz schlecht. Die Kollegen von der Kripo landen gerade mit dem Heli“, versuchte er sie sofort abzuwimmeln.
„Die Kripo ist da? Ist was mit Martin?“, erschrak sie.
„Nein, nein, Annemarie, mit Martin ist alles in Ordnung. Doktor Bechersheim kümmert sich um ihn. Du … ich muss jetzt aber Schluss machen“, erklärte er und legte dann einfach auf.
Annemarie starrte auf das Telefon. Sie zitterte. Hatte sie das gerade richtig verstanden? Martin wurde medizinisch versorgt? Hastig rannte sie in den Flur, schlüpfte in ihre Sneakers und saß nur Sekunden später auf ihrem Fahrrad, um an den Strand zu radeln. Sie konnte doch jetzt nicht einfach ins Büro fahren, um zu arbeiten. Die Ferienhausvermietung würde eben heute einmal ohne ihre Chefin auskommen müssen. Zum Glück hatte ihre Angestellte, Gina Marie, einen Schlüssel und konnte den Laden mittlerweile auch mal ganz gut ohne sie schmeißen.
*
Ein Tohuwabohu war das heute Morgen hier am Strand. Martin saß auf dem Holzbohlenpfad am Übergang zur „Düne 13“ und betrachtete das Schauspiel.
„Hui, dat is aber kalt, dein Dingens da“, fand er, als sein Schwiegersohn Doktor Jan Martin Bechersheim ihm das metallene Stethoskop auf die Brust drückte.
„Ja, ja … das sagt einer, der im September noch morgens in der Nordsee badet“, meinte dieser nur und lächelte. Martin atmete mehrmals tief ein und aus, wie er das schon als Kind von seinem Hausarzt gelernt hatte.
„Mensch, Schwiegerpapa, nicht atmen … wie soll ich denn so dein Herz hören?“, schimpfte der jetzt.
„Wenn ich nit atmen tu, dann sterb ich aber“, versuchte Martin jetzt erst einmal einen Scherz, hielt aber dann doch die Luft an.
„Hm … hört sich alles ganz normal an. Trotzdem wäre es mir lieber, wir würden noch ein EKG machen“, fand der Arzt.
„Papperlapapp, meiner Pumpe fehlt nix. Gib mir lieber wat gegen die Koppweh“, wies er den Jungen an.
„Hm … die Kopfschmerzen könnten natürlich auch eine Folge des Stromschlages sein“, überlegte Jan Martin.
„Nä, die kommen vom Schnaps und dem falschen Bier gestern Abend, dat letzte war wohl schlecht. Hier gibt et ja kein ordentliches Kölsch in den Kneipen“, musste er jetzt wieder einmal feststellen. Der Verzicht auf gezapftes Kölsch war das einzige Manko an einem Leben hier im Norden. An dieses etwas obergärige norddeutsche Bier würde Martin sich niemals gewöhnen können.
Der Arzt lächelte, kramte in seinem Koffer und reichte Martin dann einen Streifen mit Tabletten.
„Bitte schön, aber nicht alle auf einmal nehmen“, empfahl er, schloss seinen Koffer und klopfte Martin auf die Schulter.
„Kann ich jetzt nach Heim? Dat Frau Annemarie wartet bestimmt schon auf mich“, wollte Martin noch wissen.
„Klar, von mir aus kannst du jetzt gehen“, entließ ihn der Arzt und schlurfte dann durch den Sand in Richtung der rosa Frau, die, immer noch angekettet an einen Strandkorb, schimpfte wie ein Rohrspatz. Ausdauer hatte sie, das musste man ihr ja lassen.
*
Annemarie war wirklich sehr erleichtert, als Martin ihr auf Höhe des Restaurants Seekrug entgegenkam. Sein Blick war zu Boden gerichtet. Er schien in Gedanken versunken, während er sein Fahrrad schob. Lumpi war heute – anders als sonst – wie es sich gehörte angeleint und lief schwanzwedelnd neben ihm her.
„Ja, Gott sei Dank, da bist du ja“, musste sie erst einmal loswerden, als sie mit einer Vollbremsung nur Zentimeter vor ihm zum Stehen kam.
„Ach, Annemarie … grad wollte ich nach Heim kommen“, erwiderte er und schien über ihr Aufkreuzen doch sehr erstaunt oder gar erschrocken.
„Sag mal … was ist denn los mit dir? Onno hat gesagt, Jan würde nach dir sehen … ist wieder was mit deinem Herz?“, wollte sie jetzt unbedingt zuerst einmal wissen.
„Nä, Annemariechen … mir is gut. Alles bestens. Der Jan Maddin wollte nur auf Nummer sicher gehen wegen dem Stromschlag. Dat hät aber auch gezubelt … mein lieber Scholi … Uiuiui … da wurd mir aber ganz anders. Aber Unkraut vergeht ja nit“, winkte er ab.
„Wie … Stromschlag. Was ist denn passiert? Und was macht die Kripo auf der Insel“, verstand sie nun gar nichts mehr.
„Die Kripo ist wegen der Frau Erna da. Die ist nämlich tot. Ich hab die gefunden und der rosa Elefant hat mich dann su doll elektritisiert, dat ich aus den Latschen gekippt bin. Aber dat Lumpi hat mich beschützt und den rosa Elefant bis auf den Strandkorb gejagt“, faselte er sehr offensichtlich wirres Zeug.
„Martin … sag mal … hast du was getrunken?“, wollte sie wissen, obwohl sie schon vermutete, dass ihr Liebster bestimmt noch einiges an Restalkohol im Blut hatte.
Martin lehnte sein Fahrrad an das Geländer, trat zu ihr und nahm sie in den Arm.
„Nä, Annemariechen, ich bin wieder stocknüchtern. Aber wat hältst du davon, wenn mir jetzt nach Hause fahrn tun und ich dir dat Ganze beim Frühstück in Ruh erzählen tu“, schlug er vor.
Annemarie nickte. Die Idee an sich war gut. Sie wusste nur nicht, ob sie es bis nach Hause aushalten könnte, ohne gleich vor Neugierde zu platzen. Außerdem war sie sich, nach dem Wenigen, was er bisher gesagt hatte, nicht sicher, ob Martin nicht doch noch ärztlichen Beistand benötigte. Hieß es nicht auch, dass, wenn Menschen rosa Elefanten sahen, es um deren Geisteszustand kritisch stand?
„Martin … siehst du jetzt gerade immer noch einen rosa Elefanten?“, fragte sie vorsichtig.
Martin blickte sich um.
„Nä. Die Olle ist vermutlich noch am Strand und wird von Jan Maddin