Kranichtod. Thomas L. Viernau

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Kranichtod - Thomas L. Viernau


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der Quappendorffs war im Torhaus von Gut Lankenhorst versammelt. Jedenfalls diejenigen, die nicht irgendwo an den Fronten kämpften. Der kleine Rochus und sein Bruder Hektor verstanden damals nicht sehr viel von dem, was sich die Erwachsenen hinter vorgehaltener Hand erzählten. Ihre kleine Schwester lag noch in der Wiege und bekam eigentlich gar nichts mit von den Vorgängen dieses Frühjahrs. Meist spielten die Jungs mit anderen Dorfkindern im Park. Man versteckte sich, mimelte mit kleinen Münzen oder schoss mit dem Flitzebogen auf imaginäre Eindringlinge.

      Aber die angespannte Stimmung übertrug sich auf die bisher so unbeschwerte Welt der Kinder. So richtig fröhlich konnten sie nicht mehr spielen. Der Untergang des Reichs war für die Familie eine persönliche Bedrohung. Sie sahen einer ungewissen Zukunft entgegen und wussten nicht so richtig, wie sie mit den neuen Machthabern umgehen sollten. In einer nasskalten Mainacht passierte es denn auch.

      Am Tage war im Radio etwas von Kapitulation zu hören gewesen. Die Frauen waren vollkommen verstört und schüttelten nur die Köpfe. Keiner sagte etwas zu den Jungen. Rochus spürte, dass etwas passiert war. Er lag schlaflos in seinem Kinderbett. Der drei Jahre jüngere Hektor, der sein Bett direkt am Fenster hatte, schlief tief und fest. Diese Nacht war irgendwie anders als sonst. Unheimlich still. Sonst konnte er in der Ferne das Wummern der Kanonen und die Motorengeräusche schwerer Fahrzeuge vernehmen. Aber diese Nacht war still. Rochus stand auf. Er wollte in die Küche, da gab es meist etwas zu naschen oder wenigstens stand da immer ein Krug mit Milch. Seine Zunge klebte am Gaumen. Um in die Küche zu kommen, musste der Kleine die große Treppe hinab.

      Er kannte den Weg in die Küche gut. Täglich rannte er diesen Weg bestimmt zehnmal hin und zurück. Die Familie nutzte die Küche als Speisezimmer. Das große Wohnzimmer wurde nur genutzt, wenn die Männer auf Heimaturlaub kamen.

      Rochus spürte beim Hinabsteigen plötzlich einen Windhauch, der ihn frösteln ließ. Er hielt für einen Moment inne und dann sah er sie. Plötzlich stand sie vor ihm. Eine große, weißgekleidete Dame, die ihn durchdringend ansah.

      Sie war einfach so da.

      Rochus hatte keine Ahnung woher sie gekommen war. Trotzdem hatte er keine Angst vor ihr. Sie kam ihm seltsam vertraut vor, als ob er sie schon oft gesehen hatte. Die Dame in Weiß nickte ihm kurz zu und verschwand dann wieder so plötzlich, wie sie gekommen war.

      Die Begegnung hatte den kleinen Rochus vollkommen verstört. Er schlich zurück in sein Zimmer und verkroch sich unter seiner Bettdecke.

      Am nächsten Morgen erzählte er am Frühstückstisch von seiner unheimlichen Begegnung. Es wurde ganz still am Tisch. Die Erwachsenen sahen ihn bestürzt an. Seine Mutter lachte schrill auf, nur ganz kurz und auch nicht sehr lustig. Dieser kurze Lacher verstörte den kleinen Rochus noch mehr. Er schaute zu seiner Tante Amalie und zu seiner Cousine Henny, die bereits eine fünfzehnjährige junge Dame war. Auch diese beiden Frauen schauten ihn betreten an, so als ob er das beste Geschirr gerade auf den Boden geworfen hätte.

      Nur die Großmutter seufzte kurz und schickte ihn in den Park zum Spielen. Abends dann erzählte sie ihm von der »Weißen Frau«.

      Jedes Mal, wenn sie erschien, starb jemand im Hause. Deshalb war ihr Erscheinen stets ein Unglück für die Familie. Rochus fragte, ob jemand anderes die »Weiße Frau« auch schon mal gesehen habe. Die Großmutter schüttelte den Kopf. Der letzte, dem sie sich gezeigt hatte, war wohl sein Urgroßvater gewesen. Er habe sie durch den Park gehen sehen.

      Einen Tag später war er tot.

      Schlaganfall.

      Das sagten die Ärzte jedenfalls. Er war ja auch schon weit über Siebzig. Aber alle in der Familie wussten es. Es war die Begegnung mit dieser unheimlichen Spukgestalt, die ihm die letzte Lebensenergie entzogen hatte.

      Die Großmutter erzählte ihm und seinem kleinen Bruder Hektor, der inzwischen auch begierig der aufregenden Gutenachtgeschichte lauschte, wie es zu dem unheimlichen Spuk gekommen war.

      Die Quappendorffs waren lange Jahrhunderte schon hier im märkischen Land beheimatet. In der wüsten Raubritterzeit ritten sie wohl mit den Putlitzens und den Quitzows und bereicherten sich auf unlautere Art und Weise. Der damalige Stammsitz in der Prignitz wurde von den Rittern des Reichsgrafen Friedrich von Hohenzollern überrannt und niedergebrannt.

      Die Burgbewohner konnten sich in Sicherheit bringen. Nur die junge Regula, die älteste Tochter des damaligen Burgherren, Ritter Konradin, hatte es nicht mehr geschafft, aus dem brennenden Gebäude zu entkommen. Sie verbrannte bei lebendigem Leibe. Ihre Schreie sollen weithin zu hören gewesen sein. Sie verfluchte ihre Verwandtschaft, weil sie sie im Stich gelassen hatte. Als Konradin auf dem Sterbebett lag, erschien sie das erste Mal. Sie trat wie aus dem Nichts in ein weißes Gewand gekleidet an ihn heran, fasste seine Hand und im selben Moment verschied er. Seither soll sie wohl des Öfteren zu sehen gewesen sein.

      Der kleine Rochus schlief nach dieser Erzählung seiner Großmutter tief und fest. Im Traum erschien ihm der Ritter Konradin in einer glänzenden Rüstung und die »Weiße Frau« Regula, die von einem hohen Turme herab ihm zuwinkte.

      Auch sein Vater tauchte in diesem Traum auf, allerdings in der Uniform der deutschen Wehrmacht. Er war mit Konradin zusammen auf einem großen schwarzen Pferd unterwegs.

      Am nächsten Morgen wollte er seiner Mutter von diesem Traum berichten, aber dazu kam er nicht mehr. Auf dem alten Küchensofa saß die Mutter und weinte. Tante Amalie und Cousine Henny saßen bei ihr und schauten ihn betrübt an.

      Henny kam zu ihm, umarmte ihn ganz fest und flüsterte ihm ins Ohr, dass sein Papa nicht mehr wiederkommen würde und er jetzt ganz stark sein müsse.

      Kurze Zeit nach dieser Hiobsbotschaft musste die Familie das Torhaus räumen. Soldaten in seltsamen Uniformen, die eine allen Bewohnern unverständliche Sprache sprachen und eigenartig nach starkem Tabak und Maschinenöl rochen, wohnten jetzt im Schloss. Abends machten sie Musik mit einer Ziehharmonika, seltsam schwermütige Lieder. Die Quappendorffs lauschten aus der Ferne diesen Gesängen. Provisorisch war die Familie in der alten Brennerei gleich neben den Scheunen untergebracht worden.

      Nur kurze Zeit jedoch durften sie hier bleiben. Fremde Männer kamen und erzählten etwas von Junkerland, was jetzt in Bauernhand gehöre und von einer neuen Weltordnung.

      Mit eilig zusammengeschnürten Kisten und Koffern floh die Familie Richtung Westen. Dort solle es besser sein. Da wären immerhin Amerikaner und Briten und Franzosen, die darauf achteten, dass den Leuten nicht alles weggenommen wurde. So sprach jedenfalls seine Großmutter und die musste es ja wissen. Sie hatte schon einmal einen Krieg erlebt und wusste Bescheid. Damit endete abrupt die Kindheit des jungen Rochus. Im fernen Rheinland angekommen musste sich die Familie anfangs mit Gelegenheitsarbeiten und wenig Geld durchschlagen.

      Erst Mitte der fünfziger Jahre gab es eine staatliche Abfindung für den Verlust der alten Heimat. Das Gutshaus gehörte sowieso nicht mehr ihnen. Das hatte schon der Urgroßvater verkaufen müssen.

      Aber die Quappendorffs besaßen ein Vorzugswohnrecht für das Torhaus, durften daher dort wohnen bleiben. Als es dann um die Bemessung der Vertriebenenrente ging, unterließ es Rochus’ Mutter, diesen Umstand zu erwähnen. Eine Möglichkeit, die wirklichen Besitzverhältnisse von Gut Lankenhorst zu ermitteln, gab es ja inzwischen nicht mehr. Die Behörden des neugegründeten deutschen Staates im Ostteil Deutschlands waren nicht sehr kooperativ. Neben der Witwenrente gab es also auch noch eine nicht zu knapp bemessene Vertriebenenrente und eine einmalige Ausgleichszahlung für den Verlust von Hab und Gut.

      Dies ermöglichte der Familie von Quappendorff eine gutbürgerliche Existenz. Alle Kinder machten ihr Abitur und studierten. Rochus wurde Gymnasiallehrer, sein Bruder Hektor war Kommunalbeamter im höheren Dienst und die kleine Schwester Friederike-Charlotte, von allen nur Friedel genannt, studierte Chemie. Sie zog deshalb sogar wieder zurück in den Osten. Dort wurden Chemiker händeringend gesucht und man gewährte ihr neben einem kostenfreien Studienplatz auch gleich noch eine kleine Wohnung und die Aussicht auf Festanstellung in einem der großen Chemiebetriebe.

      Eigentlich hatten die Quappendorffs die Ereignisse des letzten Jahrhunderts recht gut überstanden. Klar, es gab auch Verluste. Sein Vater und sein Onkel waren im


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