Stolz und Vorurteil. Jane Austen
Читать онлайн книгу.ich, obwohl Sie nur einen kurzfristigen Mietvertrag haben?«
»Wenn ich etwas tue, tue ich es plötzlich«, antwortete er; »sollte ich mich also entschließen, Netherfield aufzugeben, dann wäre ich sicher in fünf Minuten verschwunden. Aber im Moment betrachte ich mich als Dauermieter.«
»Genau das hatte ich von Ihnen erwartet«, sagte Elizabeth.
»Sie fangen an, mich zu verstehen, nicht wahr?«, rief er und wandte sich ihr zu.
»O ja, ich verstehe Sie ausgezeichnet.«
»Könnte ich das nur für ein Kompliment halten; aber ich fürchte, so leicht durchschaut zu werden, ist ein wahres Unglück.«
»Das ist nun mal nicht anders. Aber daraus geht doch nicht hervor, dass ein tiefer, komplizierter Charakter entweder mehr oder weniger schätzenswert als Ihrer ist.«
»Lizzy«, rief ihre Mutter, »vergiss nicht, wo du bist, und sei nicht so vorlaut, wie wir es dir zu Hause durchgehen lassen.«
»Ich wusste gar nicht«, knüpfte Bingley sofort wieder an, »dass Sie Charakterstudien treiben. Das ist doch sicher eine unterhaltsame Beschäftigung.«
»Ja, aber am unterhaltsamsten sind die komplizierten Charaktere. Den Vorteil wenigstens haben sie.«
»Nun gibt es auf dem Lande im Allgemeinen«, sagte Mr. Darcy, »nicht viele Studienobjekte dieser Art. In ländlichen Gegenden verkehrt man zu sehr in geschlossenen und gleichbleibenden Kreisen.«
»Aber die Leute selbst ändern sich ständig, so dass es immer etwas Neues an ihnen zu beobachten gibt.«
»Aber natürlich«, rief Mrs. Bennet, die sich durch seine Art, über das Leben auf dem Lande zu sprechen, beleidigt fühlte, »auf dem Land ist doch genauso viel los wie in London.«
Alle waren betreten, und Darcy wandte sich nach einem kurzen Blick auf sie schweigend ab. Aber Mrs. Bennet fuhr im Bewusstsein ihres vollständigen Sieges über ihn fort, ihren Triumph auszukosten.
»Ich jedenfalls kann außer bei den Geschäften und Restaurants den großen Vorteil, den London angeblich über das Land hat, nicht sehen. Das Land ist unendlich viel angenehmer, nicht wahr, Mr. Bingley?«
»Wenn ich auf dem Land bin«, erwiderte er, »möchte ich es nie verlassen, und in der Stadt geht es mir auch nicht viel anders. Beide haben ihre Vorzüge, und ich bin in beiden gleich glücklich.«
»Ja, ja, nur liegt das an Ihrem glücklichen Charakter. Aber dieser Herr dort«, sagte sie, Mr. Darcy musternd, »fand das Land nicht der Rede wert.«
»Aber Mama, das stimmt doch nicht«, sagte Elizabeth und schämte sich für ihre Mutter. »Du hast Mr. Darcy gänzlich missverstanden. Er hat doch nur gemeint, dass man auf dem Lande nicht diese Vielfalt von Leuten trifft wie in London, und das musst du doch zugeben.«
»Natürlich, mein Kind, das hat ja auch keiner behauptet, aber was die Zahl der Leute in unserer Gegend angeht, nirgendwo anders gibt es mehr. An unseren Dinnerpartys nehmen immerhin 24 Familien teil.«
Nur sein Verständnis für Elizabeth hielt Mr. Bingley davon ab, herauszuplatzen. Seine Schwester war nicht so taktvoll. Sie sah Mr. Darcy mit einem vielsagenden Lächeln an. Elizabeth wollte ihre Mutter ablenken und fragte deshalb, ob Charlotte Lucas während ihrer Abwesenheit in Longbourn gewesen sei.
»Ja, sie ist gestern mit ihrem Vater vorbeigekommen. Was für ein netter Mann dieser Sir William ist, nicht wahr, Mr. Bingley. So distinguiert, so liebenswürdig und so umgänglich. Er weiß sich mit allen Leuten zu unterhalten. Das nenne ich gute Erziehung, und die Leute, die sich so wichtig nehmen und nie den Mund aufmachen, haben völlig falsche Vorstellungen.«
»Ist Charlotte zum Essen bei euch geblieben?«
»Nein, sie wollte nach Hause. Ich nehme an, sie musste bei den Pasteten helfen. Ich meinerseits, Mr. Bingley, halte mir immer Personal, das alleine fertig wird. Meine Töchter sind anders erzogen. Aber das muss jeder selber wissen, und die Lucas-Mädchen sind sehr nett, bestimmt, Mr. Bingley. Wie schade, dass sie nicht hübsch sind. Charlotte ist nicht ganz so bieder, aber mit ihr sind wir auch eng befreundet.«
»Sie machte einen sehr liebenswürdigen Eindruck.«
»Ja, mein Lieber, gewiss doch, aber Sie müssen zugeben, dass sie sehr bieder ist. Lady Lucas selbst hat öfter davon gesprochen und mich um Janes Schönheit beneidet. Ich mache von meiner Tochter nicht gern viel Aufhebens, aber Jane, darauf bestehe ich – kaum jemand sieht besser aus als sie. Alle sagen es. Meinem voreingenommenen Urteil würde ich nicht trauen. Ein Angestellter meines Bruders Gardiner in London hat sich, als sie erst fünfzehn war, schon so in sie verliebt, dass meine Schwägerin einen Heiratsantrag von ihm erwartete, bevor unser Besuch endete. Aber dann wurde doch nichts draus. Vielleicht hielt er sie für zu jung. Allerdings hat er einige Verse auf sie gemacht, und noch dazu sehr schöne.«
»Und das war das Ende seiner Liebe«, sagte Elizabeth ungeduldig. »Ich nehme an, es war nicht die einzige, die so zu Ende ging. Wer wohl zuerst entdeckt hat, dass sich die Liebe mit der Poesie gründlich austreiben lässt?«
»Ich dachte immer, sie sei Nahrung für die Liebe«, sagte Darcy.
»Vielleicht bei einer schönen, starken, gesunden Liebe. Das Starke zieht aus allem Nahrung. Aber wenn es nur eine leichte, dürftige Zuneigung ist, dann genügt ein einziges ordentliches Sonett, um sie in den Hungertod zu treiben.«
Darcy lächelte nur, und das nun herrschende allgemeine Schweigen ließ Elizabeth zittern, ihre Mutter könne sich wieder lächerlich machen. Sie hätte gern gesprochen, aber ihr fiel nichts ein, und nach einer kurzen Stille begann Mrs. Bennet, sich nochmals bei Mr. Bingley für seine Freundlichkeit Jane gegenüber zu bedanken und sich zu entschuldigen, ihm auch Lizzy aufhalsen zu müssen. Mr. Bingley antwortete unverändert freundlich und zwang auch seine jüngere Schwester, höflich zu sein und ein paar passende Worte zu sagen. Sie tat das zwar ohne große Liebenswürdigkeit, aber Mrs. Bennet war damit zufrieden und ließ kurz darauf ihre Kutsche vorfahren. Auf dieses Zeichen hin mischte sich ihre jüngste Tochter ins Gespräch. Die beiden Mädchen hatten während des ganzen Besuches miteinander geflüstert, und das Ergebnis war, dass die Jüngste Mr. Bingley auf seine beim ersten Besuch gegebene Zusage ansprechen sollte, einen Ball in Netherfield zu veranstalten.
Lydia war ein kräftiges, gutgewachsenes fünfzehnjähriges Mädchen mit klarem Teint und offenen Zügen. Als Liebling ihrer Mutter war sie früh in die Gesellschaft eingeführt worden. Sie hatte eine natürliche Vitalität, und die Aufmerksamkeiten der Offiziere, auf welche die üppigen Dinner ihres Onkels und Lydias Lebhaftigkeit ihre Wirkung nicht verfehlten, hatten ihr gesundes Selbstvertrauen in ausgesprochenes Selbstbewusstsein verwandelt. Deshalb war sie besser geeignet, Mr. Bingley auf den Ball hinzuweisen, und sie erinnerte ihn unvermittelt an sein Versprechen und fügte hinzu, wie hässlich es von ihm wäre, es nicht zu halten. Seine Antwort auf diesen plötzlichen Überfall war Musik in den Ohren ihrer Mutter:
»Verlassen Sie sich darauf, ich halte mein Versprechen bestimmt. Wenn Sie Lust haben, können Sie selbst den Termin des Balles festlegen, sobald Ihre Schwester wieder gesund ist. Aber solange es ihr nicht besser geht, ist Ihnen doch sicher nicht nach Tanzen zumute.«
Lydia gab sich damit zufrieden.
»O ja, zu warten, bis Jane wieder gesund ist, ist viel besser, und dann ist wahrscheinlich auch Hauptmann Carter wieder zurück in Meryton. Und wenn Ihr Ball vorüber ist«, ergänzte sie, »dann werde ich darauf bestehen, dass er auch einen veranstaltet. Ich werde Oberst Forster erzählen, wie gemein es wäre, wenn er sich nicht bereit erklärt.«
Dann brach Mrs. Bennet mit ihren Töchtern auf, und Elizabeth ging sofort wieder zu Jane hinauf und gab den beiden Damen und Darcy Gelegenheit, über ihr eigenes und das Benehmen ihrer Familie zu lästern. Darcy übrigens ließ sich nicht darauf ein, abfällige Bemerkungen über sie zu machen, obwohl Miss Bingley viel Witz über schöne Augen versprühte.
Kapitel 10
Der Tag verging fast wie der vorige. Mrs. Hurst und