Mindful Leadership - die 7 Prinzipien achtsamer Führung. Marc Lesser

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Mindful Leadership - die 7 Prinzipien achtsamer Führung - Marc Lesser


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darin, eine Kultur der Achtsamkeitspraxis zu fördern. Mein Hauptjob war es, eine Kultur aufzubauen, in der alle in der Küche beim Arbeiten ein Gefühl für Dringlichkeit, Fokussierung, Großzügigkeit, Selbstvertrauen und Gelassenheit hatten. Ich hatte als Chefkoch mit anderen Worten zwei Ziele: ein bedingungslos liebevolles, unterstützendes und produktives Arbeitsumfeld zu schaffen und gutes Essen zu liefern (und zwar auf die Minute pünktlich!). Keines der beiden Ziele durfte dem anderen geopfert werden.

      In der Tat ist die Küche in einem Zen-Kloster ein zentraler Ort der Achtsamkeitspraxis, und sie befindet sich meist in der Nähe eines weiteren Mittelpunkts, nämlich der Meditationshalle. Küche und Meditationshalle gelten als tiefgründig miteinander verbundene Orte, Orte, an denen Mühe und Mühelosigkeit, Selbst und Selbstlosigkeit greifbar werden; Orte, an denen Gemeinschaft entsteht; Orte, an denen der Geist der Fürsorge und der guten Lebensführung gelebt und gefeiert wird. Die Küche ist ein Ort der Arbeit und der Zusammenarbeit – derart, dass alle sich gegenseitig unterstützen –, und sie ist auch der Ort, in den man den Geist, die Bewusstheit und die Haltung der Meditation in die Welt der Aktivität hineintragen kann.

      Als Chefkoch stellte ich fest, dass sich das, was ich für zwei Aktivitäten hielt, meistens wie eine einzige anfühlte – während wir voll präsent und bewusst waren und für die Menschen sorgten, kochten wir eben Essen und führten die Küche. Ein andermal wieder schienen die Ziele der Achtsamkeit und der Druck, Dinge fertig zu bekommen, miteinander zu konkurrieren, als ob wir nicht beides haben könnten und einem der beiden Priorität einräumen müssten. Jede Restaurantküche – auch eine Zen-Küche! – ist ein stressiger Arbeitsplatz, an dem es dynamisch und mit hohem Tempo zugeht. Da gibt es jede Menge Vorbereitungsarbeiten zu machen, die oft komplex und detailreich sind, da arbeiten Teams in räumlicher Enge, da gibt es immer neue Prioritäten und einen straffen, eng verzahnten und manchmal unmöglich einzuhaltenden Zeitrahmen. Das Besondere an der Küche in Tassajara ist, dass das gesamte Personal nicht aus Profis besteht, sondern aus Zen-Schülerinnen und -Schülern. Und sie befindet sich an einem abgelegener Ort – während meiner Zeit als Chefkoch war der nächste Laden über zwei Stunden weit weg; wenn etwas fehlte (sei es, dass wir nicht genug Eier hatten oder irgendeine andere wichtige Zutat), mussten wir also flexibel sein und improvisieren. Dazu kam, dass es in der Küche keinen Strom gab. Alles wurde von Hand gemacht.

      Wenn ich zurückschaue, staune ich, wie erfolgreich wir waren. Ich erinnere mich, wie ich an einem Sommernachmittag mit einer Gruppe von Gästen, die ich noch nicht kannte, im Gästespeisesaal zu Mittag aß. Eine Frau auf der anderen Seite des Tisches stellte sich mir als Professorin einer Wirtschaftshochschule vor und fragte als Erstes: »Wer ist der Kopf hinter dieser Unternehmung?« Sie war zum ersten Mal in Tassajara und von der Qualität des Essens und vom Service beeindruckt, wie überhaupt von allem, was sie da erlebte. Und tatsächlich, Tassajara wirkt auf Besucherinnen und Besucher in vielerlei Hinsicht wie ein gut geführtes Tagungszentrum. Ich antwortete, dass das Merkmal dieses Unternehmens sei, dass die Menschen, die hier arbeiteten, es eben nicht als Unternehmen ansähen. Tassajara ist ein Ort der Meditationspraxis, des Dienens, der Kultivierung von Achtsamkeit – was bedeutet, dass man die Dinge nicht anders haben will, als sie sind, und dass man dem eigenen Erleben von Moment zu Moment volle Aufmerksamkeit und Bewusstheit entgegenbringt.

      Heute betrachte ich die Küche in Tassajara als Modell dafür, was achtsames Arbeiten und achtsames Führen in jedem Kontext bedeuten; ein Modell dafür, dass wir inmitten von Erschöpfung, Zeitdruck und Überforderung große Freude und große Liebe erleben können. Die Achtsamkeitspraxis als Fundament und integrales Element des Klosters lieferte den entscheidenden Kontext und Rahmen für alles, was wir in der Küche machten. Die große Sorgfalt, die Lernbereitschaft, die Verspieltheit, ganz zu schweigen von der Freude und Befriedigung, Menschen zu bedienen und mit Nahrung zu versorgen – das hatte fast etwas Magisches.

      Es ist möglich, inmitten vieler Aktivitäten Achtsamkeitspraxis, Arbeit und Führungsaufgaben als eine einzige Aktivität zu sehen. Dazu muss man sich selbst, die anderen, die Zeit und die Qualität der eigenen Bemühungen wahrnehmen. Achtsames Arbeiten und achtsames Führen erfordern und kultivieren gleichzeitig die zentralen Fähigkeiten, die wir brauchen, um gedeihen zu können, und diese Dynamik ist das Leitprinzip des vorliegenden Buches. Ich verdichte darin mein ganzes Erfahrungsspektrum in sieben zentralen Prinzipien, von denen ich hoffe, dass sie Ihnen helfen, die Führungsaufgaben in Ihrem Arbeitsalltag mit Achtsamkeit zu verbinden. Darüber hinaus kann ich aus Erfahrung sagen, dass die Wohltaten der Meditation und der Achtsamkeit uns generell guttun, nicht nur im Bereich der Arbeit. Sie können uns bei allem, was wir unternehmen, beflügeln.

       Großer Geist und Kleiner Geist

      Die Idee achtsamer Führung ist nicht gerade neu. In einem Traktat mit dem Titel »Anweisungen für den Koch« empfahl Dogen, im 13. Jahrhundert Begründer des Zen in Japan, der Küchenchef solle bei der Führung seiner Küche drei Prinzipien oder »Drei Denkweisen« praktizieren. Sie heißen: »Freudiger Geist« (ein Geist, der alles akzeptiert und zu achten weiß), »Geist der Großmutter« (der Geist bedingungsloser Liebe) und »Weiser Geist« (der Geist, der mit der Realität ständiger Veränderung umgehen und auf bedingungslose Weise offen sein kann).

      Die Praxis der Achtsamkeit selbst ist in reichen spirituellen Traditionen entstanden, die sich über Jahrtausende hinweg entwickelt und verändert haben. Historisch gesehen, tendieren Menschen zur Achtsamkeitspraxis, wenn die Zeiten unruhig sind, voller Stress, Unbeständigkeit und Ungewissheit – Zeiten wie heute also. Außerdem hat sich Achtsamkeit im Laufe der Jahrhunderte immer wieder angepasst und neu integriert, um starken und dringenden gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht werden zu können – wodurch sie nicht nur spirituelle Traditionen beeinflusst hat, sondern in viele Bereiche des Alltagslebens und der Kultur eingeflossen ist, zum Beispiel die Künste, die Esskultur, das Bildungswesen, die Arbeitswelt und darüber hinaus.

      Obwohl es richtig ist, dass ein zentraler Aspekt der Achtsamkeit eine gesteigerte Selbstwahrnehmung ist, geht es doch um mehr als nur die Bewusstheit für das individuelle Ich. Die Intention ist, eine umfassendere und ganzheitlichere Perspektive zu fördern, mit dem Bestreben, die Sorge um die eigene Person zu lockern und die begrenzte persönliche Erfahrung zu erweitern, damit wir zu einem universelleren und weniger dualistischen Bewusstsein übergehen können. Im Zen wird dies der Übergang vom Kleinen Geist zum Großen Geist genannt.

      Vieles von dem, was wir Moment für Moment erleben, gehört zur Welt des Kleinen Geistes – des persönlichen »ich, meiner, mir, mich«. Mittlerweile hat die Wissenschaft sogar einen Namen für den Kleinen Geist – er lautet »Default Mode Network« (»Ruhezustandsnetzwerk«). Das ist der Teil des Gehirns, der sich oft Sorgen um die Zukunft macht oder mit der Vergangenheit hadert, statt im gegenwärtigen Moment entspannt und wach zu sein, um klarer sehen zu können. Psychologisch gesehen, ähnelt das stark dem Ego. Zur Achtsamkeitspraxis gehört es, den Kleinen Geist wertzuschätzen und aus ihm zu lernen, aber gleichzeitig den Großen Geist zu kultivieren – die offenere, aufgewecktere und tolerantere Perspektive oder Seinsweise. Man könnte sagen: Achtsames Führen besteht darin, die Erfahrung des Großen Geistes, die durch Meditation kultiviert wird (aber jederzeit zugänglich ist), auf die Belange des Kleinen Geistes anzuwenden, also die Zwänge und Freuden des täglichen Lebens und der Zusammenarbeit mit anderen, wenn unter Zeitdruck Ziele erreicht werden sollen.

      Nach meinem Jahr als Chefkoch wurde ich gebeten, die Leitung von Tassajara zu übernehmen, wodurch sich meine Erfahrung in achtsamer Führung vertiefte und erweiterte. Tassajara ist nicht nur ein Zen-Kloster, sondern hat viele der Probleme, die auch ein kleines Unternehmen hat. Zum Beispiel wird das San Francisco Zen Center weitestgehend durch den Gewinn aus Tassajara finanziert. Und in den Sommermonaten ist es auch ein Retreat-Zentrum – mit Seminaren und Übernachtungsgästen.

      Dann, nach einem Jahr als Direktor von Tassajara, entschloss ich mich, das Kloster zu verlassen und an der Graduate Business School der New Yorker Universität den Master of Business Administration (MBA) zu machen. Ich war wild darauf (und hatte gleichzeitig ziemliche Angst davor), das Wirtschaftsleben kennenzulernen und zu testen, was ich über die mögliche Synthese aus Achtsamkeit, Arbeit und Führungsverhalten gelernt hatte. Zu jenem Zeitpunkt hatte ich für mein Empfinden einige bemerkenswerte Pluspunkte dieses Ansatzes ausgemacht, und zwar folgende:


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