Staatsfeinde. Hansjörg Anderegg

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Staatsfeinde - Hansjörg Anderegg


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Auge.

      Die Brücke zwischen den beiden Schichten des neuronalen Netzes musste völlig neu aufgesetzt werden, damit die richtigen Neuronen feuerten wie im menschlichen Gehirn. Das war alles. Professor Keller in Edinburg hatte so etwas bereits vor zwei Jahren postuliert, war aber den Beweis schuldig geblieben. Phil Schuster würde diesen Beweis erbringen. Er zweifelte keinen Augenblick mehr daran. Ungeduldig von einem Fuß auf den andern tretend stand er an der Tür der Straßenbahn, als müsste er dringend für Knaben.

      Leni hatte die Gebärmutter verlassen. Sie arbeitete im kleinen Büro eine Etage höher. Es besaß immerhin ein schmales Fenster, durch das man die Kleingärten am Autobahnkreuz Köln-Nord aus der Vogelperspektive beobachten konnte. Sie arbeitete dort am Laptop. Er sah es im Fenster des Systemmonitors. Erleichtert, allein zu sein, begann er, seinen Algorithmus zu modifizieren. In kleinen Schritten, übervorsichtig, damit sich ja kein neuer Fehler einschlich, erweiterte er das Programm. Jedes Teilprogramm testete er nochmals ausführlich, bevor er das ganze neuronale Netz wieder installierte. Sein Puls raste, als er den Startbefehl gab.

      Die Testdaten, welche die Dämonen am Nachmittag bereitgestellt hatten, waren noch vorhanden. So dauerte es nur wenige Minuten, bis sich das Netz künstlicher Neuronen und Synapsen im zentralen Rechner aufgebaut hatte. Danach herrschte gespenstische Ruhe im System. Das künstliche Gehirn wartete auf äußere Reize, auf die es reagieren würde. Um unnötige Fehlerquellen auszuschließen, verzichtete er auf Spracheingabe und benutzte stattdessen die gute alte Tastatur.

      »Wie fühlst du dich, Phil?«, fragte er sein digitales Alter Ego.

      Es war die klassische Frage, die zwar jeder Mensch ohne Zögern sinnvoll beantworten konnte, aber kein Computersystem – bis jetzt. Sein künstliches Gehirn antwortete jedoch augenblicklich:

      »Ich sollte eigentlich glücklich sein, denn ich glaube, etwas Wichtiges entdeckt zu haben.«

      Sein Adrenalinspiegel stieg in die Gefahrenzone. Die Antwort des Computers ließ das Herz pochen, dass es schmerzte.

      »Warum bist du trotzdem nicht glücklich?«, fragte er nach.

      »Ich weiß nicht, was Leni Kraus über mich denkt. Das stört mich.«

      Wie um alles in der Welt war so etwas möglich? Sein Programm reagierte vollkommen unvorhersehbar und dennoch irgendwie logisch. Wie kam die Maschine überhaupt auf die Idee, Leni ins Spiel zu bringen? Er verstand seinen eigenen Algorithmus nicht mehr, ein leider bekanntes und bisher ungelöstes Problem mit so ziemlich allen neuronalen Netzen und selbstlernenden Systemen. Es blieb nichts anderes übrig, als zu fragen.

      »Warum interessiert dich, was Leni denkt?«

      Er erwartete einen Systemabsturz oder wenigstens eine sinnlose Antwort.

      »Ich weiß es nicht«, schrieb der Computer ohne Zögern auf den Bildschirm. »Warum würde ich sonst so oft Lenis Session im Systemmonitor anklicken?«

      Phil sprang auf und stieß einen überraschten Fluch aus. Sein eigenes Programm hatte ihn überlistet. Es identifizierte sich mit Phil Schuster wie beabsichtigt, verfolgte also konsequent all seine Aktionen im System. Die Antwort auf seine unscharf formulierte Frage war alles andere als sinnlos. Sie zeugte von zwingender Logik.

      Das Chat-Fenster öffnete sich mit einem Glockenschlag.

      »Ich brauche etwas CPU-Zeit«, klagte Leni.

      Ihr Lebenszeichen holte ihn in den Alltag der PR-Agentur Stein zurück. Die Euphorie blieb. Am Durchbruch in seiner KI-Forschung zweifelte er nicht, war auch noch nichts bewiesen.

      »Bin gleich bei dir«, meldete er zurück, selbst überrascht von seiner sozialverträglichen Anwandlung.

      Auf dem Weg in ihr Büro fasste er einen kühnen Entschluss.

      »Sag mal«, empfing sie ihn mit strenger Miene, »erst blockierst du die ganze I/O und jetzt die CPU. Was zum Kuckuck treibst du da?«

      »Ich blockiere gar nichts. Sieh im Systemmonitor nach: keine Aktivität.«

      Das Gesicht des Unschuldslamms überzeugte sie nicht. »Du weißt, was ich meine. Was war das heute Nachmittag? Wieso schafft das System plötzlich diese gigantische Datentransferrate?«

      »Ach das … Vergaß ich es zu erwähnen? Ich habe veranlasst, dass wir über die fünffache Bandbreite verfügen.«

      »Hinter dem Rücken des Chefs?«

      »Nur für ein halbes Jahr. Das lag gerade noch in unserem Budget drin.«

      »Na toll, und warum weiß ich nichts davon?«

      »Brauchst du denn größere Bandbreite?«

      Sie blickte ihn an wie Mütter ihr Kind in der Pubertät ansehen, das sie nicht mehr verstehen. Er hatte reichlich Erfahrung mit diesem Blick.

      »Das war wohl nicht, was du hören wolltest«, sagte er unsicher.

      »Ach, vergiss es. Dich soll einer verstehen.«

      Sie wandte sich wieder dem Laptop zu. Genau da wollte er sie haben.

      »Du verstehst mich nicht? Dann lass uns das ändern.«

      Ihre Augen wurden größer. Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Ganz ehrlich, Phil, ich verstehe dich immer weniger. Was soll das? Ich habe noch zu tun, da du mir ja großzügig die Arbeit am Projekt überlassen hast.«

      Er wischte das Projekt von der Lippe mit einer Handbewegung weg. »Ich meine es ernst, Leni. Es wird Zeit, dass du verstehst, wie ich ticke.«

      »Jetzt, nach bald sechs Jahren?«

      »Es ist nie zu spät, etwas zu lernen.«

      »Es ist schon verdammt spät, mein Lieber, und ich habe noch zu tun.«

      »Frage mich, was du willst. Du kriegst auf alles eine ehrliche Antwort.«

      Obwohl technisch unmöglich, wurden ihre Augen noch größer. Dahinter arbeitete es heftig, stellte er beruhigt fest.

      »Also gut«, sagte sie nach einer Weile entschlossen, »erste Frage: Stehst du auf mich?«

      Beide erröteten wie Teenager, die solche Fragen niemals direkt, sondern höchstens übers Handy stellen würden. Er zögerte etwas zu lange. Sie erholte sich schneller vom Schock der eigenen Frage.

      »Kriege ich jetzt eine Antwort?«

      Er räusperte sich umständlich, besann sich dann aufs Experiment, das ihm unterwegs eingefallen war.

      »Lass uns solche Fragen im Chat besprechen. Ich denke, wir fühlen uns dann beide – freier, zu sagen, was wir denken.«

      Wenig später saß er wieder in der Gebärmutter am Terminal, das Chat-Fenster vor sich. Lenis Text erschien zwar auf dem Bildschirm, wurde aber direkt an sein künstliches Alter Ego weitergeleitet. Umgekehrt empfing sie nicht seine Antworten, sondern die des neuronalen Netzes. Es war eine primitive Form des Turing-Tests, den sie ahnungslos durchführte. Dass er dabei erfuhr, was sie in Bezug auf seine Person bewegte, empfand er eher als Belastung denn als Bonus. Ihre erste Frage vorhin schmerzte jedenfalls schon fast wie eine Berührung. Der Test dürfte nicht lange dauern, sagte er sich, falls es so weiterginge. Sie würde den Schwindel bald durchschauen.

      Beides traf nicht zu. Der Chat zwischen Leni und der Maschine entwickelte sich zu einem spannenden Dialog, der sie offenbar reizte, immer neue Fragen zu seiner Person, den Vorlieben, Lebensumständen, schlimmen Ereignissen und Gott weiß was zu erfinden. Das künstliche Gehirn wusste auf alles eine einleuchtende Antwort. Wo es keine gab, wich der Computer mit Ausreden aus, die durchaus humorvoll daherkamen. Sicher, die Art von Antworten kannte man schon seit geraumer Zeit von elektronischen Assistenten wie Apples Siri, aber die Qualität dieses Dialogs war doch eine ganz andere.

      Er ließ den Chat weiterlaufen und kehrte auf leisen Sohlen zu Leni zurück. Minutenlang beobachtete er durch die offene Tür, wie sie gebannt am Computer diskutierte, ohne ihn zu bemerken. Schon beglückwünschte er sich zum gelungenen Experiment, als sie erschrocken aufsprang. Blass im Gesicht,


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