Staatsfeinde. Hansjörg Anderegg

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Staatsfeinde - Hansjörg Anderegg


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noch erahnen konnte.

      »Hast du nicht langsam genug getrunken, Kai?«, fragte Pia.

      »Dein kleiner Bruder schmeißt eine Runde. Hörst du nicht zu?«

      Kais Artikulation ließ etwas zu wünschen übrig, ein Zeichen, dass der Inhalt der vier Schnapsgläser an seinem Stammplatz tatsächlich in seinem Blut kreiste. Pia zögerte. Phil nickte und sagte, immer noch unnatürlich grinsend:

      »Gib ihm sein Bier, Schwesterchen. Heute feiern wir. Heute ist ein großer Tag.«

      Der erste Schluck war O. K. Der zweite schmeckte nur noch bitter. Vielleicht sollte er reinen Alkohol in der Rhein Apotheke besorgen und ihn sich spritzen, erwog er kurz. Eine andere Möglichkeit, sich ohne Qual zu betrinken, sah er nicht. Er holte das Wasser, das Pia wieder in den Kühlschrank gelegt hatte, und ließ das Bier warm werden. Kai trank gierig aus dem vollen Glas, das sie ihm mit strafendem Blick hingestellt hatte. Als er es absetzte, war es leer. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und sah ihn fragend an.

      »Was? Noch eins?«

      »Sicher«, grinste Kai, »aber was feiern wir eigentlich?«

      »Versteht ihr nicht.«

      Er versuchte trotzdem, zu erklären, welchen Riesenschritt künstliche Intelligenz gerade dank Phil Schuster in Richtung wahre Intelligenz getan hatte. Es war vergebliche Liebesmüh. Die Augen der Zuhörer verrieten eine akute Blockade des Frontalkortex. Er zuckte die Achseln und seufzte:

      »Ich habe es ja gesagt.«

      Nur Monis Geist schien nicht vollständig lahmgelegt zu sein.

      »Du kannst mir also jetzt einen Roboter basteln, mit dem ich mich vernünftig unterhalten kann?«

      Die Formulierung reizte seine Lachmuskeln, aber im Grunde genommen hatte sie das Wesen des neuen Algorithmus voll erfasst.

      »Im Prinzip ja«, stimmte er zu, »aber wozu brauchst du einen Roboter?«

      »Habe ich doch gerade gesagt, um vernünftig mit ihm zu reden. Sonst ist mir nämlich noch keiner untergekommen, mit dem das möglich wäre.«

      Sie hörte sich die Proteste der Umstehenden nicht mehr an und verschwand durch die Hintertür. Der nächste Kunde wartete, nahm er an.

      »So ganz daneben liegt sie nicht«, sagte er. »Mein Bot kann tatsächlich vernünftiger argumentieren als manche Leute.«

      Kai hielt Pia das leere Glas hin. Sie schüttelte nur den Kopf, worauf er seufzend aufgab und sich an Phil wandte.

      »Weißt du, eigentlich mag sie mich, deine Schwester. Sie kann es nur nicht zeigen.«

      Alle, die zuhörten, fanden die tiefschürfende Erkenntnis plausibel außer Pia.

      »Du bist betrunken, Kai«, wies sie ihn zurecht. »Hör endlich auf zu saufen und such dir einen anständigen Job. Arbeitsloser Privatdetektiv! Das hat doch keine Zukunft.«

      »Meine Zukunft liegt schon lange hinter mir, meine Liebe. Seit acht Jahren, um genau zu sein, seit dem letzten Einsatz mit Tom.«

      »Jetzt kommt die Geschichte wieder«, murmelte sie mit den Augen rollend, »die hast du schon hundertmal erzählt. Der Einsatz mit Tom ging in die Hose. Du hast den Dienst quittiert, und jetzt bist du Alkoholiker. Habe ich etwas vergessen?«

      Zu Phils Erstaunen grinste Kai breit.

      »Siehst du, sie mag mich. Sie merkt sich alle meine Geschichten.«

      »Eine Geschichte, Kai«, protestierte sie, »es gibt nur eine einzige Geschichte, die du immer wieder erzählst. Meine Güte, irgendwann muss gut sein. Die Zeit heilt doch die Wunden.«

      Er schüttelte traurig den Kopf. »Den Scheiß habe ich schon früher nicht geglaubt.«

      Phil horchte auf. Er kannte Kais Geschichte nicht, hatte seinen Monologen nie zugehört. Dass der Detektiv früher bei der Kripo gearbeitet hatte, wusste er. Da er jetzt selbst leider einen Tom bei der Kripo kannte, fragte er ihn. Kai nickte ernst. Seine Aussprache hörte sich mit einem Mal wieder nüchtern an.

      »Klar, Tom Fischer war mein Partner. Feiner Kerl.«

      »He?«, rief Phil verdutzt. Fast wäre ihm die Wasserflasche entglitten. »Das ist nicht dein Ernst, Kai!«

      »Was?«

      »Hauptkommissar Tom Fischer ist ein Arschloch.«

      »Stimmt«, gab Kai zu.

      Phil verstand gar nichts mehr.

      »Ja was jetzt?«, fragten er und Pia im Duett.

      »Beides ist richtig. Im Grunde ist er ein feiner Kerl, der Tom. Als Partner konnte ich mich hundertprozentig auf ihn verlassen. Aber jetzt ist er ein Arschloch.«

      »Eine ziemlich krasse Verwandlung«, bemerkte Phil, »wie bei Kafka.«

      Kai dachte nach. Das strengte ihn offensichtlich an. Pia stellte ihm eine Tasse schwarzen Kaffee mit viel Zucker hin. Nach dem ersten Schluck schüttelte er sich und erzählte weiter.

      »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was der Auslöser war. Es hat wohl damit zu tun, dass ihn Frau und Tochter kurz nach dem Einsatz – ihr wisst schon …«

      »Wir wissen, was du meinst«, warf Pia augenblicklich ein.

      »Also kurz danach hat ihn die Alte verlassen.«

      »Und die Tochter«, ergänzte Pia. »Das ist hart.«

      »Zweifellos«, gab Phil zu, »trotzdem muss einer nicht zwingend zum Arschloch mutieren und andere Leute belästigen, zum Beispiel mich.«

      Das war auch für seine Schwester neu. Er hatte sie aus dem Gefecht mit Kommissar Fischer heraushalten wollen, aber jetzt war es zu spät. Haarklein musste er vom Mord am Antiquar Rosenblatt in Aachen und den quälenden Befragungen im Landeskriminalamt berichten. Kais einziger Kommentar am Ende der Geschichte bestand aus einem Wort:

      »Arschloch.«

      Pia zog ihn hinter die Theke und in eine Ecke, wo sie ungestört reden konnten. Sie war der einzige Mensch, der ihn ungestraft berühren durfte.

      »Ist da was dran?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Hast du irgendetwas mit diesen furchtbaren Verbrechen zu tun?«

      »Spinnst du?«

      Mit dem nächsten Atemzug stürzte alles wieder auf ihn ein, das er seit jener schrecklichen Nacht erfolgreich durch Arbeit verdrängt hatte. Schuld!, wollte er hinausschreien, doch sein Mund blieb verschlossen.

      Düsseldorf

      Der Verdacht gegen Tom Fischer hatte sich zwar nicht erhärtet in den letzten vierundzwanzig Stunden, war aber keineswegs vom Tisch. Chris fehlte das Motiv. Weshalb sollte ein Kollege wie Fischer als Phantom Leute umbringen, noch dazu im Internet damit prahlen?

      Die Lagebesprechung im LKA Düsseldorf zog sich in die Länge. Fischer benahm sich völlig normal, machte seine Arbeit professionell, soweit sie feststellen konnte. Eine gespaltene Persönlichkeit? Unwahrscheinlich, dachte sie. In dieser Frage verließ sie sich aufs Bauchgefühl, das sie normalerweise nicht im Stich ließ. Sicher, Fischer besaß einen labilen Charakter, brauste leicht auf, würde möglicherweise aus nichtigem Anlass ausrasten, falls man ihm auf die Füße trat. Das entsprach ganz und gar nicht dem Profil des eiskalten Killers. Das Phantom hatte seine Tat in Aachen in allen Einzelheiten geplant wie ein Auftragsmörder, der sich keinen Fehler erlauben kann. Die Nachricht mit der Drohung der Geschworenen war ein klares Indiz dafür. Und wie anders wäre zu erklären, dass er sich nach der Tat scheinbar in Luft auflöste trotz der Zeugen, die seinen Abgang beobachteten? Das Phantom blieb ein Rätsel, dessen Lösung weder sie noch die Kollegen vom LKA auch nur einen Schritt näher gerückt waren, wie diese Besprechung zeigte.

      »Hat die Untersuchung des Steins etwas gebracht, was uns weiterhilft?«, fragte sie.

      Fischer und seine Partnerin sezierten sie mit den Augen. Kriminalassistent


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