Staatsfeinde. Hansjörg Anderegg

Читать онлайн книгу.

Staatsfeinde - Hansjörg Anderegg


Скачать книгу
gedacht, wie das Experiment enden sollte, ohne sie zu verletzen. Deshalb fehlten ihm jetzt die passenden Worte.

      »Wie lange stehst du schon da?«, fragte sie mit kaum verhaltenem Ärger in der Stimme.

      »Fünf Minuten?«, antwortete er unsicher.

      »Fünf Minuten, was du nicht sagst.« Sie deutete auf den Laptop. »Und mit wem bitte chatte ich die ganze Zeit?«

      Dabei schnitt sie eine Grimasse, als würde sie ihren Computer nie wieder anfassen.

      »Mit mir – das heißt, mit dem Algorithmus, den ich entwickelt habe – eigentlich mit dem neuronalen Netz, das der Algorithmus mit meinen Daten …«

      »Moment!«, unterbrach sie. »Willst du mich verarschen?«

      »Nein, natürlich nicht. Das war ein ernsthafter Test. Alle Antworten, die du gekriegt hast, stimmen hundertprozentig, als hätte ich sie selbst gegeben.«

      Ihre Wut war nicht zu übersehen, aber sie beherrschte sich, versuchte rational zu reagieren, wie er es in ihrer Lage tun würde.

      »Die Antworten waren also korrekt? Das wollen wir doch gleich mal überprüfen«, sagte sie und setzte sich wieder an den Computer.

      »Wie schätzt du deine Sozialkompetenz ein?«, tippte sie ins Chat-Fenster.

      »Mangelhaft«, antwortete der digitale Phil ohne Zögern.

      Sie drehte sich zu ihm um. »Stimmt, Sozialkompetenz mangelhaft. Jetzt hast du es schriftlich.«

      Ihre Mundwinkel zuckten. Bald würde sie lächeln, wusste er aus Erfahrung. Er verzichtete daher darauf, ihr zu erklären, woher das neuronale Netz seine Sozialkompetenz kannte. Der digitale Phil hatte ganz einfach die Zensuren aus dem letzten Jahr am Einhard-Gymnasium gelesen.

      »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.«

      »Hast du aber«, murmelte sie trotzig.

      Wie sollte er ihr die Bedeutung des Experiments erklären? Wie könnte je ein Laie verstehen, was hier vor sich ging, wenn sogar eine ausgewiesene Fachkraft wie Leni ihre liebe Not damit hatte?

      »Was würde wohl Hermann zu deinem Verhalten sagen?«, fragte sie nach einer peinlichen Pause.

      Jetzt konnte er das Lächeln auf ihrem Gesicht wenigstens erahnen. Sie schien sich allmählich zu entspannen.

      »Ich soll dich von ihm grüßen, habe ich vergessen, sorry.«

      »Ihr redet über mich? Krass.«

      Beide grinsten. »Hermann scheint sich halt für dich zu interessieren.«

      »Ich will ja gar nicht wissen, wie deine kranken Algorithmen wirklich funktionieren, Phil«, gab sie kopfschüttelnd zurück. »Der Papagei ist wohl nur so etwas wie die Vorstufe für das, was auf unserem Rechner gerade abgeht, oder brauchst du ihn als Ersatz für den Therapeuten?«

      Er lachte, sie nicht. Die letzte Frage war durchaus ernst gemeint. Vielleicht brauchte er tatsächlich einen Therapeuten, um sich besser in der analogen Welt unter echten Menschen wie Leni zurechtzufinden. Schwamm drüber. Es gab Wichtigeres zu tun.

      »Erkläre es mir«, hakte sie nach.

      Er versuchte es. Dabei konzentrierte er sich darauf, die Bedeutung des digitalen Phil für PR-Kampagnen wie die der Autolobby hervorzuheben. Er sah darin nur eine bescheidene, primitive Anwendung des ersten wirklich intelligenten Bots. Die Vorstellung einer künstlichen Intelligenz, die gleichzeitig Tausende, ja Hunderttausende kritischer Kunden oder Wähler durch geschickt geführte Diskussionen von einer Sache überzeugt, leuchtete ihr sofort ein. Ihre Frage am Ende der Lektion bewies es.

      »Wir können jetzt also deinem Alter Ego einfach die Zielvorgaben der Automobilindustrie und ein paar Randbedingungen nennen, und schon wird es der Netzgemeinde die Abneigung gegen den Freihandel mit China austreiben?«

      Die Formulierung reizte ihn wieder zum Lachen. »Im Prinzip liegst du richtig, aber so einfach geht es natürlich nicht. Vor allem muss das neuronale Netz erst mit den richtigen Daten gefüttert werden. Zudem ist die Eingabe der Zielfunktion und der Randbedingungen vorerst noch ein Knochenjob für Insider mit sehr guten Programmierkenntnissen. Vor allem aber müssen jetzt intensive und zeitaufwendige Tests durchgeführt werden. «

      »Wir erwähnen also nichts davon an der Sitzung morgen?«

      Die Vorstellung erschreckte ihn. »Wo denkst du hin! Wir reden hier von Forschung, noch lange nicht von praktischen Anwendungen. Nein, kein Wort zu Stein oder Greta!«

      »Ist ja gut«, wehrte sie ab. »Ich habe verstanden. Jetzt müsste sich aber meine natürliche Intelligenz wieder aufs Projekt von der Lippe konzentrieren.«

      Er nickte und wandte sich ab. Sie betrachtete nachdenklich das Chat-Fenster und murmelte:

      »Vielleicht sollte ich dem meine erste Frage doch noch stellen.«

      »Untersteh dich!«, rief er beim Verlassen des Büros.

      Er beeilte sich, seine Kopie in der Gebärmutter zum Schweigen zu bringen.

      Kaum hatte Leni wieder zu arbeiten begonnen, stieg ihr Gretas Parfüm in die Nase. Sie hatte die Assistentin des Chefs nicht kommen hören. Jetzt stand sie hinter ihr und betrachtete das Chat-Fenster mit Argusaugen.

      »Phil ist schon ein interessanter Charakter«, bemerkte Greta.

      Leni wäre am liebsten im Boden versunken. Stockend versuchte sie, die Aufmerksamkeit aufs Projekt zu lenken. In der Aufregung klickte sie ihr eigenes Arbeitsfenster weg statt den kompromittierenden Chat.

      »Geben Sie sich keine Mühe«, sagte Greta mit schiefem Lächeln. »Was war das mit Phils neuer Software? Was soll nicht an der Sitzung erwähnt werden? Ich höre.«

      Nach diesem denkwürdigem Tag zog es Phil nicht in seine Wohnung nach Aachen. Ein widernatürliches Verlangen nach Gesellschaft lenkte seine Schritte automatisch zu Pias Bar zurück. Gegen seine Gewohnheit betrat er das Lokal durch den Vordereingang. Etwa ein Dutzend vorwiegend ältere Männer saßen an den Tischen und am Tresen. Eine Gruppe spielte Skat. Andere starrten trübselig auf ihr Kölsch, als warteten sie auf Antworten zu all ihren unausgesprochenen Fragen. Nicht wenige leere Schnapsgläser standen herum.

      Pia, eben noch am Zapfhahn beschäftigt, erspähte ihn augenblicklich. Sofort unterbrach sie die Arbeit und schoss hinter dem Tresen hervor auf ihn zu.

      »Jöses, Phil, ist was passiert? Hat man dich entlassen?«

      »Eine Runde für alle!«, rief er.

      »Jöses Maria, was ist nur in dich gefahren? Sprich mit mir.«

      Moni tauchte aus dem Nichts auf und spitzte die Ohren, die wieder auf normale Größe geschrumpft waren.

      »Es gibt etwas zu feiern, was du nicht verstehen wirst, Schwesterherz«, sagte er grinsend.

      Der fröhliche Gesichtsausdruck ängstigte sie noch mehr. Kopfschüttelnd kehrte sie an den Tresen zurück und holte sein übliches Wasser aus dem Kühlschrank.

      »Was soll ich damit?«, fragte er irritiert. »Besteht dein Kölsch jetzt nur noch aus Wasser?«

      Sie betrachtete ihn wie die Ente das fremde Küken, bevor sie es aus dem Nest wirft. »Du wirst mir jetzt nicht zu trinken anfangen, Phil!«

      »Ich trinke nur bei ganz besonderen Gelegenheiten, das weißt du, und jetzt ist so eine.« Lauter rief er in die Runde: »Ich brauche Alkohol!«

      »Alkohol!«, tönte das Echo aus allen vier Ecken.

      Monis Gelächter kam ihm gefährlich nah. Im letzten Moment erinnerte sie sich an seine Allergie gegen Berührungen.

      »Lass die Luft raus, Pia«, brummte ein Herr mit Glatze neben ihm am Tresen, das leere Glas in der Hand.

      Erschrocken rückte er einen Schritt zur Seite. Die spitzen Eckzähne des Mannes ängstigten ihn, obwohl er ein bekannter Stammgast war. Nur das Feuer in den Augen


Скачать книгу