Staatsfeinde. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.beauftragt, die Gesteinsprobe genauer analysieren zu lassen. Das geht schneller und günstiger in Ihrem Labor, statt das Beweisstück nach Wiesbaden zu schicken.«
Fischer lief rot an. Becker besaß nicht nur schöne grüne Augen. Dahinter befand sich auch ein brauchbares Gehirn. Schnell sprudelte die Analyse der KT aus ihm heraus, dass Fischer nichts anderes übrig blieb, als zuzuhören.
»Der am Tatort sichergestellte Stein ist ein Stück Löss-Gestein. Es besteht im Wesentlichen aus Ton, Quarz und Kalk. Die KTU sagt, dass die Zusammensetzung typisch ist für die Zülpicher Börde. Der Stein auf der Nachricht der Geschworenen stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem Braunkohle-Tagbau am Nordrand der Eifel.«
Oder aus einer Kiesgrube in diesem riesigen Gebiet, ergänzte sie im Stillen. Sie schwieg wie die überraschten Kollegen, gönnte den grünen Augen den stillen Triumph.
»Der kann den verdammten Briefbeschwerer irgendwo aufgelesen haben«, brummte Fischer nach dem ersten Schreck.
»Sicher«, stimmte sie zu, »aber wie hoch würden Sie die Wahrscheinlichkeit dafür einschätzen, nachdem wir wissen, dass die Tat sorgfältig geplant war?« Niemand beantwortete die rhetorische Frage, also fuhr sie fort: »Ich denke, wir sollten davon ausgehen, dass unser Phantom eine Operationsbasis in der Gegend benutzt hat, aus der dieser Stein stammt.«
»Selbst wenn das stimmt«, warf Fischer ein, »die Zülpicher Börde ist ein gigantisches Gebiet. Wir würden Monate und tausend Leute brauchen, um es abzusuchen.«
»Lassen Sie sich was einfallen. Ich kümmere mich inzwischen um die Geschworenen, die in letzter Zeit merkwürdig still geworden sind.«
Die Bestätigung aus Wiesbaden folgte unmittelbar nach der Besprechung. Es gab keinerlei Lebenszeichen mehr von jury12. Die Webseite der Geschworenen blieb unverändert, als gäbe es die Hetzer nicht mehr, als hätten sich die Geschworenen in Luft aufgelöst wie das Phantom. Hirngespinste, weiter nichts, außer den zwei Leichen. Sie glaubte indessen keine Sekunde ans Ende der Geschichte. Es war die Ruhe vor dem Sturm, warnte ihr Bauchgefühl.
Zu viele mögliche Spuren führten nicht weiter als gar keine, stellte sie nicht zum ersten Mal in ihrer Karriere fest. Es gab weit über hundert in NRW registrierte HK45, wie sie das Phantom für die Todesschüsse benutzt hatte. Fischer besaß eine und John Stein, aber ohne konkrete Beweise war da nichts zu machen. Auch die nicht wenigen Besitzer eines Motorrads wie es Zeugen beschrieben hatten waren bekannt, ohne dass ein greifbarer Verdacht aufgekommen wäre. Der einzige Zufall, der sie störte, war die Tatsache, dass John Stein auch auf der Liste der Besitzer einer BMW 900 RT auftauchte. Andererseits, auf welcher Liste tauchte der nicht auf? Die Ermittlungen kamen nicht vom Fleck, während sich Geschworene und das Phantom seelenruhig auf die nächste Hinrichtung vorbereiteten, fürchtete sie.
Das Klingelzeichen auf dem Laptop riss sie aus ihren Gedanken.
»Uwe, gibt›s was Neues von jury12?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Das Gesicht im Video-Chat blieb unbewegt.
»Nicht von jury12«, antwortete er, »aber bei der Agentur Stein tut sich etwas.«
Sie horchte auf.
»Es hat vielleicht nichts zu bedeuten für den Fall«, schränkte er schnell ein. »Seit gestern Morgen beobachten wir erhöhte Aktivität auf Twitter und Facebook, die sich zu den Servern der Agentur Stein in Köln zurückverfolgen lassen.«
»Aktivität in Steins Accounts?«
»Auch, aber was auffällt, sind die vielen neuen User-Ids, die praktisch über Nacht den Hashtags folgen, die Steins Leute aufgesetzt haben.«
»Was für Hashtags?«
»Sie finden sie in Ihrer Mail. Es geht um Streitkultur, Hysterie gegen Freihandel und Hetze im Internet.«
Es waren nicht unbedingt Themen einer PR-Agentur.
»Eine Nachlese der Demo in Berlin?«, fragte sie verblüfft.
»Könnte man glauben. Lesen Sie selbst. Meiner Meinung nach wird jetzt der Boden bereitet für eine groß angelegte Kampagne, die unter anderem Lotte Engel für die Eskalation in Berlin verantwortlich machen soll.«
»Verstehe ich nicht«, gab sie unumwunden zu.
»Lesen Sie selbst. Wie gesagt, es muss nichts bedeuten, aber das jetzt schon überdurchschnittliche Echo in den sozialen Medien ist zumindest erstaunlich.«
»Irgendein Hinweis auf die Geschworenen in diesen Tweets?«
»Bis jetzt nicht.«
Uwes letzte Bemerkung klang wie eine Drohung.
Köln
In Gedanken versunken betrat Phil die Gebärmutter. Etwas stimmte nicht. Er begriff nicht sofort, was es war. Immer noch abwesend, setzte er sich an seinen Arbeitsplatz. Das Schuldgefühl wollte nicht mehr aus seinem Kopf. Es fraß sich durch seine Synapsen wie ein bösartiger Tumor. Er versuchte, sich auf die Optimierung seines Codes zu konzentrieren, die ihm mitten in der schlaflosen Nacht eingefallen war, dann sah er Leni.
Sie saß nicht an ihrem gewohnten Platz, sondern diametral gegenüber, versteckt hinter zwei Monitoren. Sie war nicht aufgesprungen, um ihn zu begrüßen, gab auch jetzt keinen Ton von sich. Es war, als säße eine Fremde im Computerraum.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte er verdutzt.
Statt zu antworten, stand sie auf und verließ den Raum. Dabei vermied sie jeden Blickkontakt. Was war geschehen? Späte Nachwirkungen seines nicht ganz koscheren Turing-Experiments? Verwirrt ging er zu ihrem neuen Arbeitsplatz, um vielleicht einen Hinweis zu erhalten. Beide Monitore waren ausgeschaltet. Ihr Geisteszustand gab immer mehr Rätsel auf, ganz im Gegensatz zu seinem eigenen, den er zwar genau kannte, aber nicht weniger verwünschte.
Die Arbeit konnte warten. Statt sich einzuloggen, verließ auch er die Gebärmutter. Leni stand am Fenster in ihrem Büro. Der schmale Körper bedeckte die ganze Breite. Die Lust an der Arbeit schien auch ihr vergangen zu sein. Er klopfte an die offene Tür.
»Was willst du?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
»Wir müssen reden.«
»Ich wüsste nicht, worüber. Du machst deinen Job, ich meinen.«
Sie stand noch immer reglos am Fenster. Wahrscheinlich sollte er ihr Gesicht nicht sehen.
»Es geht nicht um den Job …«
Sie fuhr herum. Die Augen blitzten gefährlich. »Doch, genau darum geht es.«
Er verstand nichts mehr. Was hatte er falsch gemacht? Bevor er sie fragen konnte, stand Greta in der Tür.
»Phil, ich muss dich sprechen«, sagte sie, »sofort.«
Ihr Mund formte sich zu einem verführerischen Lächeln. Heute trug sie den blutroten Lippenstift, den hochgeschlitzten Rock und eine fast transparente Bluse. Was soll das?, lag ihm auf der Zunge. Sie musste wissen, dass er nicht auf solche Äußerlichkeiten abfuhr, nicht einmal bei einem Vamp wie Greta, von dem andere Männer feucht träumten. Als er den Mund öffnete, bedeutete sie ihm mit dem Zeigefinger, zu schweigen, und sagte mit lasziver Stimme:
»Im Penthouse.«
Sie wandte sich um, damit er auch ihren Hintern bewundern konnte. Bevor sie verschwand, riet sie ihm, sich zu beeilen.
»Sie werden sicher ein Stündchen auf Ihren Phil verzichten können«, fügte sie für Leni hinzu.
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