Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski

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Herausforderungen der Wirtschaftspolitik - Dirk Linowski


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kann man nicht bluffen. Nehmen Sie Ihr Leben also, soweit Ihnen dies gegeben ist, in die eigenen Hände und übernehmen Sie Verantwortung für sich und andere.

      Wo Menschen sind, kann es keine absolute Objektivität und Neutralität geben. Ich habe mich, soweit es mir möglich war, bemüht, neutral zu beschreiben und zu berichten und damit grob dem aus dem Rechtsstudium bekannten Gutachterstil zu genügen. Jedem der 15 Hauptkapitel habe ich aber einen Exkurs angefügt, in dem ich diese Strenge teilweise aufgegeben habe, da ich der Überzeugung bin, dass ein brauchbares Buch über Wirtschaftspolitik eine emotionale Komponente haben muss.

      Ich würde mich, obwohl ich seit mehr als zwei Jahrzehnten als Wirtschaftswissenschaftler arbeite, immer noch als „ökonomisch bewanderten Mathematiker“ bezeichnen. Eine formale Ausbildung ist in der modernen Volkswirtschaftslehre nicht unbedingt von Nachteil: Im Laufe meines Lebens bin ich aber, wie viele Menschen vor und sehr sicher auch nach mir, zu der Überzeugung gelangt, dass die aktuelle Ökonomie „übermathematisiert“ ist; dass aber andererseits die Rolle von Mathematik und Statistik als Hilfsmittel zum Verständnis der Gesellschaft unzureichend entwickelt sind. Ein Vorteil eines Seiteneinsteigers ist, dass sein Blick kritischer und auch klarer sein mag. Ohne den Kapitalisten Friedrich Engels hätte es kein Kommunistisches Manifest gegegeben und dem Anfang September 2020 jung verstorbenen Anthropologen David Graeber verdanken wir wesentliche Erkenntnisse zur Rolle des Geldes und der Schulden in der Geschichte der Zivilisationen.

      Ich bin weder studierter Philopsoph noch Historiker, sondern schreibe hier auch über Dinge, von denen ich „nicht zertifiziert“ etwas zu verstehen glaube. Da alles mit allem zusammenhängt, bräuchten wir vermutlich Dutzende Autoren für einen Text wie diesen, um formale Angriffe auszuschließen. Das Buch könnte dann immer noch lausig sein! Es fällt mir somit leicht, zuzugestehen, dass alle Fehler, die dieses Buch beinhaltet, mir allein zuzurechnen sind.

Teil I: Demografie, Bildung und Arbeit

      1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs

      1.1 Wendezeit? Versuch einer geopolitischen Einordnung

      Die deutsche Gesellschaft steht in einer sich rapide verändernden Welt vor gewaltigen Herausforderungen, die, da alles mit allem verbunden ist, nicht monokausal beantwortet und ebenso nicht auf Deutschland isoliert bezogen, sondern zunächst im Kontext der Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen UnionEuropäische Union/EU und nachfolgend im „Weltmaßstab“ analysiert werden müssen.

      Inzwischen ist schon wieder fast vergessen, dass vor Beginn der Corona-Krise aus Griechenland und aus Spanien bis zum Beginn des Jahres 2020 hoffnungsvolle Signale zur Wirtschaftsentwicklung kamen: Die Europäische Union befindet sich aber nicht wieder, sondern immer noch in einer langandauernden veritablen Krise. Man darf hier durchaus das Jahr des Ausbrechens der letzten großen FinanzkriseFinanzkrise, 2008, als einen sinnvollen Bezugspunkt wählen.

      Die staatliche und private Verschuldung hatte bereits vor der Corona-Krise in vielen Ländern (nicht nur in der EU) ein Vielfaches der Jahreswirtschaftsleistung angenommen. „Staatstragende“ Parteien waren vielerorts in der Defensive bzw. verschwunden. Dies betrifft nicht nur Griechenland, sondern ebenso Italien, Spanien, GroßbritannienGroßbritannien, Polen und Frankreich (dort wurde der Schritt der Pulverisierung der Altparteien bereits mit den Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 vollzogen), um nur einige „größere“ europäische Länder zu nennen. Nach einer kurzen Umfragehochphase zu Beginn der Corona-Seuche im Frühjahr 2020 folgte für CDU und CSU der Absturz bei der Bundestagswahl 2021 und es ist überhaupt nicht klar, ob und wie CDU, CSU und SPD in den kommenden Jahren ihre Rollen als Volksparteien verteidigen können.

      Zu den zahlreichen Wirtschaftswissenschaftlern, die die Hauptverantwortlichkeit des Staates darin sehen, Beschäftigung für die arbeitsfähige und -willige Bevölkerung zu schaffen, zählen Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und ebenso die deutschen Ökonomen Peter Bofinger und der besonders prominente „Ordnungspolitiker“ Hans-Werner Sinn. Unterschiedlich sind allerdings zum Teil die Vorschläge, wie dies zu erreichen sei. Wenn Sie diese Maxime ebenso ernst nehmen wie die genannten Ökonomen, werden Sie schnell zu dem Schluss kommen müssen, dass zahlreiche Staaten in der EU ihren zentralen Aufgaben schon seit Langem nicht oder nur unzureichend nachkommen.

      Die europäische Dauerkrise, die durch hohe Arbeitslosigkeit, international vielfach nicht wettbewerbsfähige Produktivitäten und damit sinkenden Wohlstand charakterisiert ist, stärkt einerseits „populistische“ Parteien. Diese werden hier so gefasst, dass von ihnen (zu) „einfache“ Lösungen für die äußerst komplexen miteinander verwobenen Problemkreise angeboten werden. Ebenso gestärkt werden andererseits separatistische Bewegungen wie z.B. in Schottland, in Norditalien, im Baskenland und in Katalonien. Grundsätzlich ist mittelfristig weder die EU, wie wir sie kennen, noch der Bestand der Gemeinschaftswährung Euro garantiert.

      Wir befinden uns derzeit in einer dritten Phase der aktuellen europäischen Krise: Zuerst wurden Finanzinstitute gerettet, dann Staaten. Nun werden die politischen (Rück-)Wirkungen sichtbar, wobei bei Weitem nicht klar ist, ob sich alle unsere europäischen Partner in demokratischer Art und Weise reformieren werden können und wollen.

      Alle diese Probleme sind mit der Entwicklung der Bevölkerungen verbunden. Aus diesem Grunde werden wir unsere Betrachtungen mit einer Darstellung und Analyse der demografischen Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland eröffnen.

      Wir stehen in Deutschland und in der EU vor den folgenden zentralen Herausforderungen:

      1 Eine schleichende EntsolidarisierungEntsolidarisierung der Gesellschaften. Diese beginnt auf dem Niveau der Familien und steht damit im Zusammenhang zur „modernen Arbeitswelt“, berührt Fragen der Generationengerechtigkeit, geht weiter über „egoistische“ Spartengewerkschaften, die Mitglieder vertreten, deren Arbeit für unsere Gesellschaft schwer verzichtbar ist, und betrifft ebenso Staaten. Diese Entsolidarisierung ist direkt mit den Schwierigkeiten verbunden, die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats, wie wir ihn kennen und schätzen, aufrechtzuerhalten.Hoffnung macht hier der Ende 2020 tatsächlich noch gelungene Vertrag über einen geordneten Austritts Großbritanniens aus der EU in Folge des Ergebnisses des Mitte 2016 abgehaltenen Referendums.Hier ist Zurückhaltung angebracht, Solidarität „nur“ von den anderen EU-Mitgliedstaaten einzufordern. Die Entscheidungsfindung deutscher Bundesregierungen in den vergangenen ca. 20 Jahren wurde und wird in unseren Nachbarländern oft mit derjenigen von „Big Gorilla” USA verglichen; mit anderen Worten: Deutschland trifft unilaterale Entscheidungen und die kleinen Länder bzw. deren Regierungen müssen folgen, ob sie wollen oder nicht. Dies betrifft die nach dem Unfall von Fukushima im Frühjahr 2011 abrupt eingeleitete „EnergiewendeEnergiewende“ sowie die Entscheidung der deutschen Bundesregierung im Sommer 2015, die deutschen Grenzen mit der Begründung, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, zu öffnen. Unabhängig davon, ob diese Sichtweise zahlreicher Nachbarn stimmt oder nicht: Es gilt das aus dem Englischen kommende Sprichwort Perception is Reality (wobei diese „Erkenntnis“ u.a. bereits im alten China gewonnen und von Menzius formuliert wurde).

      2 Entwicklung von Strategien, mit Migrationsströmen innerhalb der EU und insbesondere aus Nordafrika und dem Nahen Osten kommend umzugehen: Ende 2021 existierte weder ein Konsensus noch eine schlüssige Strategie, wie diese Flüchtlingsströme (und die Sicherung der EU-Außengrenzen) für die europäischen Empfängerstaaten beherrschbar gemacht werden können. Die südeuropäischen Staaten, die seit mehr als 10 Jahren am meisten unter der Wirtschaftskrise leiden, werden mit diesem Problem auch finanziell von den reichen und stabilen Nordländern, die keine relevanten Außengrenzen der EU haben, zu sehr allein gelassen. Hier existiert in mehrerlei Hinsicht ein Bezug zur globalen Umweltkrise.

      3 Entwicklung von (gesamteuropäischen?) Strategien zum Umgang mit RusslandRussland: Mehrere osteuropäische Staaten wie Polen, Estland, Lettland und Litauen fühlen sich von Russland permanent bedroht, auch wenn Russland behauptet, keinerlei Angriffsgelüste gegenüber der NATO zu verspüren. Russland bzw. seine politische Elite fühlt sich wiederum von der NATO, die ihrerseits behauptet, nur Verteidigungsaktivitäten zu verfolgen, bedrängt und bedroht. Tatsächlich finden wir uns inzwischen in einer gefährlichen Gemengelage wieder, bei der ein Zufall


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