Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski

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Herausforderungen der Wirtschaftspolitik - Dirk Linowski


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jede der unterschiedlichen Perspektiven: Perception is Reality. Diese Ausführungen können grundsätzlich auf den zweiten großen direkten Nachbarn der EU, die Türkei, übertragen werden.

       Filmtipp:

      Diese Sicht der Dinge ist im Film „Rashomon“ des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa aus dem Jahre 1950 meisterhaft dargestellt. Kurosawa geht noch einen Schritt weiter: Seine Akteure haben nicht nur unterschiedliche Sichtweisen der Realität, sondern sie erfuhren unterschiedliche Realitäten.

      Diese drei Eckpunkte wären Anfang 2014 vermutlich für die Mehrzahl der in diesem Text vorgestellten politischen Argumentationen hinreichend gewesen. Tatsächlich stellt sich das Gesamtbild acht Jahre später deutlich komplizierter dar. Zusätzlich zu den drei erstgenannten prägen weitere sechs Entwicklungen seit Kurzem unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung einer instabiler gewordenen Welt:

      1 Die Preise von Rohstoffen, insbesondere Erdöl (vgl. den Langfrist-Rohölchart in Abb. 1.1), Erdgas, Industrie- und Edelmetallen, aber auch von Agrarrohstoffen und Halbprodukten wie Stahl schwanken seit dem Ausbrechen der Finanzkrise teils dramatisch. So sind diese in den Jahren 2014 und 2015 sehr stark gefallen, bevor sie sich im Verlauf des Jahres 2016 wieder moderat erholten, um zu Beginn des Jahres 2020 wieder zu kollabieren, um daraufhin wieder stark zu steigen … Temporär niedrige Rohstoffpreise sollten uns als Importeure von Rohstoffen nicht zum Jubeln verleiten, sondern mögliche politische Krisen in rohstoffexportierenden und von den betreffenden Erlösen abhängigen Staaten antizipieren lassen. Es sind aber primär die starken Preisschwankungen, die so gefährlich sind, weil sie für die exportierenden Länder einerseits eine vernünftige Langzeitfinanzplanung schwierig bis unmöglich machen und andererseits einen Anreiz für herrschende Eliten darstellen, sich in „guten Zeiten“ die Taschen zu füllen.

      Abb. 1.1:

      Rohölpreisentwicklung der Sorte BRENT von 1997 bis 2021 in US-Dollar pro Barrel1 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv)

      1 Terrorism is back. Die durch die terroristischen Attacken im November 2015 in Paris geprägte westliche Wahrnehmung, ist, weil stark zeitpunktbezogen und europazentriert, irreführend. Die Angriffe von Paris waren „nur“ ein schreckliches Ereignis innerhalb von wenigen Monaten bzw. Jahren in einer Kette terroristischer Anschläge, die bereits Jahrzehnte andauern. Sie sind in eine Reihe von mörderischen Anschlägen weltweit (in der Türkei, Tunesien, auf russische Touristen in Ägypten, im Libanon, in der Yunnan-Provinz in China u.v.m.) einzuordnen. Den wirtschaftlichen Konsequenzen der Anschläge in Tunesien im Jahr 2015, die praktisch den Zusammenbruch der Haupteinnahmequelle des Landes, des Tourismus’, zur Folge hatte, steht in Europa bisher nichts annähernd Gleichartiges gegenüber. Als Folge werden politische Allianzen im Nahen Osten seit ca. vier Jahren neu gedacht (vgl. Punkt 3 und Punkt 6).

      2 Der im Dezember 2010 begonnene sogenannte Arabische Frühling war offensichtlich deutlich mehr Hoffnung als Realität: Der gesamte Nahe Osten (englisch: Middle East) und große Teile Nordafrikas werden entweder (wieder) von diktatorischen Regimes „regiert“ oder sie sind in Anarchie und Bürgerkrieg abgeglitten. Allianzen sind, sofern überhaupt vorhanden, oft kurzlebig und zweckgebunden. Zu den „Überraschungen“ der vergangenen Jahre zählten die wechselseitigen (temporären?) Annäherungen zwischen Saudi-Arabien, Israel und Russland. Die geopolitische Situation im Nahen Osten und hier insbesondere der seit dem Jahr 2011 andauernde Syrienkonflikt ist wiederum direkt mit der Flüchtlings- bzw. Migrationsproblematik und der RusslandRusslandpolitik der EU bzw. ihrer Nationalstaaten verwoben.

      3 Ende des Jahres 2021 war der US-Dollar fraglos die Weltleitwährung Nummer eins. Die Schwankungen des Wechselkurses von US-Dollar und Euro, der zweitwichtigsten Weltwährung, waren in den vergangenen Jahrzehnten aber immens (s. Abb. 1.2). So verlor der US-Dollar gegenüber dem Euro z.B. von 2002 bis 2008 innerhalb von ca. 6 Jahren fast die Hälfte seines Wertes, um sich danach wieder auf relativ niedrigem Niveau zu erholen (vgl. Exkurs zu Kapitel 14).Abb. 1.2:WechselkursWechselkurs US-Dollar pro Euro 1997–2021 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv)Tatsache ist, dass die Dominanz der US-Währung mittelfristig zur Disposition steht: So wurde die Währung der Volksrepublik China, der Renminbi (RMB), im Jahre 2016 fünfte Reservewährung des Internationalen Währungsfonds (IWFIWF). Dies hatte zunächst einen eher symbolischen Wert, da China bereits einen Großteil seiner Handelsgeschäfte, und das nicht nur mit Entwicklungsländern, in RMB abschließt. Zusammen mit der Ankündigung der chinesischen Zentralregierung, Chinas Währung schrittweise frei konvertierbar zu machen, wird dies Auswirkungen auf die internationale politische Machtbalance haben. Währung ist Macht: Im günstigen Fall dürfen wir langfristig die Herausbildung eines stabilen OligopolOligopolls zwischen US-Dollar, Euro und RMB erwarten.

      4 Mit dem Brexit hat Anfang 2021 eine der wirtschaftlich und militärisch stärksten Nationen die EU verlassen. Es wird im optimistischen Fall nur einige wenige Jahre dauern, bis sich zwischen GroßbritannienGroßbritannien und der (Rest-)EU ein „normales“ und hoffentlich freundschaftliches Nachbarschafts- und Arbeitsverhältnis herausgebildet haben wird. Deutschland als bevölkerungsstärkstes Land und wirtschaftliches Zentrum der Europäischen Union wird teilweise für die EU-Nettozahlungen Großbritanniens einstehen und zudem zusätzliche Ausgaben in den Verteidigungshaushalt einstellen müssen, um der Selbstverpflichtung, in Zukunft zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu investieren, wenigstens mittelfristig zu genügen. In diesem Kontext wird häufig der Ruf nach einem Kerneuropa und damit verbunden nach der Stärkung bzw. „(Re-)Vitalisierung“ der von de Gaulle und Adenauer initiierten deutsch-französischen Achse laut.[2] Diese Diskussion ist jedoch nicht neu, sondern derzeit weit hinter dem zurück, was Charles de Gaulle angedacht hatte, als er als französischer Präsident Anfang der 1960er Jahre auf die Deutschen zuging.

      5 Die EU wird grundsätzliche Fragen beantworten müssen, um ihren Zerfall zu verhindern: Dazu zählen jenseits von technisch relativ einfach lösbaren Wiederaufbauhilfen nach Corona primär die Gewährleistung der Sicherheit der Außengrenzen der EU, die Entwicklung von Konzepten, wie der Dauer von (Jugend-)Arbeitslosigkeit in weiten Teilen Süd- und Osteuropas begegnet werden soll, und die Frage, wie sie sich gegenüber den großen Nachbarn Türkei und Russland positionieren will. Insbesondere kann die weitere Entwicklung der EU nicht sinnvoll losgelöst von der seit 2008 schwelenden Eurokrise betrachtet werden, die zwar derzeit nicht mehr im Fokus der Medienberichterstattung steht, die aber nichtsdestotrotz nicht vollständig überwunden ist. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, die Entwicklung der Positionen der Bundesregierung und des französischen Präsidenten und ihrer jeweiligen „Follower“ bezüglich einer Aufwertung des European Stability Mechanism (ESM) zu einem European Monetary Fund zu verfolgen. Die deutsche Bundesregierung hat im Frühjahr 2020 aus guten Gründen einer Teilvergesellschaftung von Schulden unter dem Schlagwort Corona-Wiederaufbau zugestimmt und damit den EU-Gipfel im Juli 2020 wesentlich mitbestimmt.Die nicht überwundene Krise der Europäischen Währungsunion und die Absenz einer stringenten Strategie der Bundesregierung zu ihrer Überwindung stellt eine, wenn nicht die zentrale Ursache für die Schwäche Europas dar, die sich durch hohe ArbeitslosigkeitArbeitslosigkeit, niedrige Produktivitätszuwächse, wachsende Schulden u.v.m. manifestiert. Deutschland ist als „Zahlmeister“ ohne nennenswerte Rechte in den meisten Nachbarstaaten weiterhin willkommen, sein moralischer Ruf aber nicht nur in Italien und Griechenland angekratzt und seine Durchsetzungskraft gering. Als das Land, „das (sich) mangels eigener konstruktiver Pläne an das Bestehende klammert, auf den Buchstaben der Verträge [die bereits über 160 Mal ohne Sanktionen gebrochen wurden] pocht und sich damit als Aufseher stilisiert, erzeugt es Widerstand, ohne etwas zu erreichen.“[3] Spätestens seit der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im November 2016 ist in fundamentaler Art und Weise klar, dass das Verhältnis von Deutschland und Europa zu den Vereinigten Staaten neu austariert werden wird. Das zentrale Versprechen Donald Trumps war das Schaffen von (Industrie-)Jobs in den USAUSA, wobei Trumps Politik mit der US-Unternehmenssteuerreform aus dem Jahre 2017 und der Androhung von Zöllen für Importe genau darauf abzielten. Vor allem Letzteres steht in bewusstem Gegensatz zum Paradigma des Freihandels, dem sich Deutschland verpflichtet fühlt und von dem es als Exportnation profitiert. Die


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