Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski

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Herausforderungen der Wirtschaftspolitik - Dirk Linowski


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vs. Gesinnungsethik

      EthikEthik ist die Lehre von den Normen menschlichen Handelns. Die Ethik befasst sich somit mit der Begründung der moralischen Regeln. Keine Ethik kommt an der Tatsache vorbei, dass zur Erreichung „guter“ Zwecke mitunter sittlich bedenkliche bzw. gefährliche Mittel mit der Folge von „Nebenwirkungen“ eingesetzt werden müssen.

      Ethisch orientiertes Handeln kann grundsätzlich unter zwei prinzipiell gegensätzlichen Maximen stehen. Es kann gesinnungsethisch oder verantwortungsethisch sein. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man unter einer gesinnungsethischen Maxime handelt, in der „die Welt“ für „das Übel“ verantwortlich ist, oder unter der verantwortungsethischen, dass man in persona bzw. als Institution für die Folgen seines Handeln verantwortlich ist (vgl. insbesondere Max Webers „Politik als Beruf“ sowie Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“).

      Gesinnungsethik geht oft – wenn auch nicht immer – mit tiefem religiösen Glauben oder pseudo-religiösen Weltbildern wie im Kommunismus einher.

      Tatsächlich werden diese „Reinformen“ von EthikEthik nie unverfälscht durch Personen in Politik und Wirtschaft gelebt (mal ganz abgesehen von den Entscheidern, denen ethische Maximen ebenso egal sind wie einem Teil der von ihnen „Regierten“).

      In der neueren Vergangenheit sind in der „großen Politik“ neben dem Inder Mahatma Gandhi und dem allseits bekannten Häftling, späteren Präsidenten und schließlich der Identifikationsfigur Südafrikas Nelson Mandela als Gesinnungsethiker der ehemalige chilenische Präsident Salvador Allende zu nennen. Allende zog es 1973 während des Putsches von General Augusto Pinochet vor, zu sterben, als von seinen Überzeugungen und den von ihm (auch selbst) erwarteten Handlungen abzurücken. Der Putsch in Chile im Jahre 1973 ist ein Lehrstück in internationaler (Wirtschafts-)Politik, über das es sich bezüglich des Verhaltens der damaligen Großmächte USA und Sowjetunion als auch der beiden Deutschlands zu bilden lohnt.

      Langfristig wenig erfolgreich als „Gesinnungsethiker“ war Zar Alexander II., der Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland die Leibeigenschaft abschaffte und damit das Ende des russischen Zarenreichs innerhalb von weniger als 60 Jahren einläutete. Hier passt das Bonmot „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“.

      Obwohl dies sehr vereinfacht, wurde und wird der 2015 verstorbene ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, oft mit Verweis auf Karl Popper und Max Weber, die er vor, während und nach seiner Bundeskanzlerschaft vielfach zitierte, als der klassische Verantwortungsethiker dargestellt. Legendär sind Helmut Schmidts publizierte Reflexionen zum Kampf Rote Armee Fraktion (RAF) gegen den (west-)deutschen Staat und die Reaktion des deutschen Staats, vertreten durch Helmut Schmidt.

      Eines der lesenswertesten Bücher zum Thema Ethik und Politik sind die „Selbstbetrachtungen“ von Marc Aurel, der vor mehr als 1800 Jahren nicht nur ein großer Philosoph war, sondern hautberuflich lange Zeit unter schwierigsten Bedingungen (Stichworte Antoninische Pest1 und Einfälle von Germanenstämmen) fast zwanzig Jahre lang als römischer Kaiser recht erfolgreich ein Großreich regierte.

      Lassen Sie uns hier einen Schritt zurückgehen. Der durch seine dreibändige Keynes–Biografie bekannt gewordene englische Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky führt diesbezüglich aus: „Mit der Überzeugung, gut und schlecht würden intuitiv erkannt, waren Keynes und [sein Lehrer] Moore Erben einer philosophischen und religiösen Tradition, die immer mehr an Boden verlor. Heute haben Gesellschaften Gepflogenheiten, aber keine Ethik. Die Gepflogenheiten sagen uns, wie wir uns zu verhalten haben, wenn wir etwas tun, aber nicht, ob das, was wir tun, auch wert ist getan zu werden. […] Die liberale Gesellschaft ist im Wesentlichen eine Prozess- und Transaktionsgesellschaft. Ihre Werte sind zweitrangige Werte, die der Regelung von politischen und sozialen Beziehungen dienen, damit Konflikte zwischen konkurrierenden Wertvorstellungen, Religionen und ethnischen Zugehörigkeiten möglichst vermieden werden. Vieles davon fällt unter das Etikett TugendethikEthik [Hervorhebung von mir], aber ausgeklammert bleibt die Frage. Wozu dient das Leben?“[10]

      Die simple GegenüberstellungMarktwirtschaftsoziale von MarktwirtschaftMarktwirtschaft vs. Planwirtschaft (beide Idealformen gibt es praktisch nirgendwo auf der Welt) oder DemokratieDemokratie vs. Diktatur (die es so beide ebenso nicht in Reinform gibt), weiter simplifiziert in „gut“ und „schlecht“, bringen uns hier nicht weiter.

      Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland erinnert definitorisch übrigens nicht mal entfernt, und dies ist keine Wertung, an eine idealtypische Lehrbuchmarktwirtschaft. Denken Sie hierbei z.B. an den Länderfinanzausgleich, den Mindestlohn, Krankenkassen- und Rentenzuschüsse aus Steuermitteln, HartzIV-Arbeitslosengeld u.v.m. (siehe auch Kapitel 8).

      Während China (richtigerweise) Staatskapitalismus bescheinigt wird, ist unser Reflexionsniveau bezüglich Deutschlands oder der USAUSA sprachlich und gedanklich seltsam beschränkt. Wie wir in den folgenden Abschnitten, nicht nur denen zu den Sozialversicherungen und den Finanzmärkten, sehen werden, ist es schlicht eine Frage der Perspektive, ob wir die modernen westlichen Volkswirtschaften als Staatswirtschaften mit privatwirtschaftlichen Merkmalen bezeichnen oder umgekehrt.

      Die bereits erwähnte Ökonomin Mariana Mazzucato zeigt z.B. in ihrem Buch „Das Kapital des Staates“, dass Wertschöpfung auch und gerade in den USA vom StaatStaat ausgeht. Das Raumfahrtprogramm, die Rüstung, BiotechnologieBiotechnologie, Internet, GPS u.v.m. wurden durch die Bereitstellung von Infrastrukturen der Grundlagenforschung, öffentliche Subventionen und eine diskrete Steuerpolitik vom US-Staat initiiert.

      Echte unabdingbare konstituierende Merkmale einer Marktwirtschaft gibt es jedenfalls wenige. Weder sind private Finanzinstutionen zwingend noch das Privateigentum an Wohneigentum, das es z.B. im „Musterkapitalismusland“ Singapur praktisch nicht gibt.2 Argumentationen werden üblicherweise darauf aufgebaut, dass Demokratie und Marktwirtschaft einander bedingen und dass Staaten, die auf demokratischen Prinzipien beruhen, Distanz zu Märkten haben. Das ist pauschal weder in Deutschland noch in den USA noch sonst irgendwo der Fall (vgl. Kapitel 6 und den Exkurs zu Kapitel 14).

      Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass nicht nur die Außen- und Menschenrechtspolitik wertegetrieben ist, sondern dass dies ebenso für die Wirtschaftspolitik gilt. Es lohnt in diesem Zusammenhang, sich genauestens zu überlegen bzw. klarzumachen, worauf wir hinsichtlich unseres Gesellschaftsmodells stolz sind (es gibt zahlreiche positive Antworten) und was DemokratieDemokratie ferner tatsächlich bedeutet.

      Aufgabe zur Selbstreflexion:

      Versuchen Sie, die für Sie fünf wichtigsten „Güter“ einer Gesellschaft im allgemeineren volkswirtschaftlichen Sinne zu benennen (z.B. Eigenschaften, die mit Demokratie zusammenhängen, oder Demokratie ganz allgemein, öffentliche Sicherheit, Funktionsfähigkeit des Rechtssystems, Öffnungszeiten der Supermärkte, Qualität der Fußballnationalmannschaft usw.) und ihre subjektiven Wahrnehmungen auf einer diskreten Fünferskala von „trifft ganz zu“ bis „trifft überhaupt nicht“ auf Deutschland, Frankreich, Großbritannien, China und die USA (auch wenn Sie nicht alle diese Länder selbst besucht haben) anzuwenden und ermitteln Sie nachfolgend die Summen der absoluten Abstände. Das Ergebnis wird Sie vermutlich überraschen!

      In dem großartigen Buch des englischen Wissenschaftshistorikers Peter Watson „Ideen: Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne“ merkt Watson als Kommentar zur Entstehung der altgriechischen Demokratien an: „Aber wenigstens verdeutlicht es, dass das, was wir im 21. Jahrhundert als Demokratie ansehen, in Wahrheit eine Wahloligarchie ist.“[11] Diese Aussage, über die es sich nachzudenken lohnt, bezieht sich nicht auf Russland oder China, sondern auf „unsere“ westlichen Demokratien. Noch besser sollte es der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter gewusst haben, als er 2015 – vor der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten! – festhielt: „Jetzt ist [das politische System der USA] nur noch eine Oligarchie, in der unbegrenzte politische Bestechung das Wesen der Nominierung zum Präsidenten oder der Wahl zum Präsidenten ausmacht. Und das Gleiche gilt für die Gouverneure, US-Senatoren und Kongressabgeordneten. Jetzt haben wir gerade eine Subversion unseres politischen Systems erlebt, als Lohn


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