Gesammelte Werke. Фридрих Вильгельм Ðицше
Читать онлайн книгу.Alle jene Männer sind ganz und aus einem Stein gehauen. Zwischen ihrem Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Nothwendigkeit. Es fehlt für sie jede Convention, weil es damals keinen Philosophen- und Gelehrtenstand gab. Sie Alle sind in großartiger Einsamkeit als die Einzigen, die damals nur der Erkenntniß lebten. Sie Alle besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Späteren übertreffen, ihre eigne Form zu finden und diese bis in’s Feinste und Größte durch Metamorphose fortzubilden. Denn keine Mode kam ihnen hülfreich und erleichternd entgegen. So bilden sie zusammen Das, was Schopenhauer im Gegensatz zu der Gelehrten-Republik eine Genialen-Republik genannt hat: ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu und ungestört durch muthwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort.
Von diesem hohen Geistergespräch habe ich mir vorgesetzt zu erzählen, was unsre moderne Harthörigkeit etwa davon hören und verstehen kann: das heißt gewiß das Allerwenigste. Es scheint mir, daß jene alten Weisen von Thales bis Sokrates, in ihm alles Das, wenn auch in allgemeinster Form, besprochen haben, was für unsre Betrachtung das Eigenthümlich-Hellenische ausmacht. Sie prägen in ihrem Gespräche wie schon in ihren Persönlichkeiten die großen Züge des griechischen Genius aus, deren schattenhafter Abdruck, deren verschwommene und deshalb undeutlicher redende Copie die ganze griechische Geschichte ist. Wenn wir das gesammte Leben des griechischen Volkes richtig deuteten, immer würden wir doch nur das Bild wiedergespiegelt finden, das in seinen höchsten Genien mit lichteren Farben strahlt. Gleich das erste Erlebniß der Philosophie auf griechischem Boden, die Sanktion der sieben Weisen, ist eine deutliche und unvergeßliche Linie am Bilde des Hellenischen. Andre Völker haben Heilige, die Griechen haben Weise. Man hat mit Recht gesagt, daß ein Volk nicht sowohl durch seine großen Männer charakterisirt werde, als durch die Art, wie es dieselben erkenne und ehre. In anderen Zeiten ist der Philosoph ein zufälliger einsamer Wanderer in feindseligster Umgebung, entweder sich durchschleichend oder mit geballten Fäusten sich durchdrängend. Allein bei den Griechen ist der Philosoph nicht zufällig: wenn er im sechsten und fünften Jahrhundert unter den ungeheuren Gefahren und Verführungen der Verweltlichung erscheint und gleichsam aus der Höhle des Trophonios mitten in die Üppigkeit, das Entdeckerglück, den Reichthum und die Sinnlichkeit der griechischen Kolonien hineinschreitet, so ahnen wir, daß er als ein edler Warner kommt, zu demselben Zwecke, zu dem in jenen Jahrhunderten die Tragödie geboren wurde und den die orphischen Mysterien in den grotesken Hieroglyphen ihrer Gebräuche zu verstehen geben. Das Urtheil jener Philosophen über das Leben und das Dasein überhaupt besagt so sehr viel mehr als ein modernes Urtheil, weil sie das Leben in einer üppigen Vollendung vor sich hatten und weil bei ihnen nicht, wie bei uns, das Gefühl des Denkers sich verwirrt in dem Zwiespalt des Wunsches nach Freiheit, Schönheit, Größe des Lebens und des Triebes nach Wahrheit, die nur fragt: Was ist das Leben überhaupt werth? Die Aufgabe, die der Philosoph innerhalb einer wirklichen, nach einheitlichem Stile gearteten Cultur zu erfüllen hat, ist aus unsern Zustünden und Erlebnissen deshalb nicht rein zu errathen, weil wir keine solche Cultur haben. Sondern nur eine Cultur, wie die griechische, kann die Frage nach jener Aufgabe des Philosophen beantworten, nur sie kann, wie ich sagte, die Philosophie überhaupt rechtfertigen, weil sie allein weiß und beweisen kann, warum und wie der Philosoph nicht ein zufälliger, beliebiger, bald hier-, bald dorthin versprengter Wanderer ist. Es giebt eine stählerne Nothwendigkeit, die den Philosophen an eine wahre Cultur fesselt: aber wie, wenn diese Cultur nicht vorhanden ist? Dann ist der Philosoph ein unberechenbarer und darum Schrecken einflößender Komet, während er im guten Falle als ein Hauptgestirn im Sonnensysteme der Cultur leuchtet. Deshalb rechtfertigen die Griechen den Philosophen, weil er allein bei ihnen kein Komet ist.
2.
Nach solchen Betrachtungen wird es ohne Anstoß hingenommen werden, wenn ich von den vorplatonischen Philosophen als von einer zusammengehörigen Gesellschaft rede und ihnen allein diese Schrift zu widmen gedenke. Mit Plato beginnt etwas ganz Neues; oder, wie mit gleichem Rechte gesagt werden kann, seit Plato fehlt den Philosophen etwas Wesentliches, im Vergleich mit jener Genialen-Republik von Thales bis Sokrates.
Wer sich mißgünstig über jene älteren Meister ausdrücken will, mag sie die Einseitigen nennen und ihre Epigonen, mit Plato an der Spitze, die Vielseitigen. Richtiger und unbefangener würde es sein, die Letzteren als philosophische Mischcharaktere, die Ersteren als die reinen Typen zu begreifen. Plato selbst ist der erste großartige Mischcharakter, und als solcher sowohl in seiner Philosophie als in seiner Persönlichkeit ausgeprägt. Sokratische, pythagoreische und heraklitische Elemente sind in seiner Ideenlehre vereinigt: sie ist deshalb kein typisch-reines Phänomen. Auch als Mensch vermischt Plato die Züge des königlich abgeschlossenen und allgenügsamen Heraklit, des melancholisch-mitleidsvollen und legislatorischen Pythagoras und des seelenkundigen Dialektikers Sokrates. Alle späteren Philosophen sind solche Mischcharaktere; wo etwas Einseitiges an ihnen hervortritt, wie bei den Cynikern, ist es nicht Typus, sondern Carrikatur. Viel wichtiger aber ist, daß sie Sektenstifter sind und daß die von ihnen gestifteten Sekten insgesammt Oppositionsanstalten gegen die hellenische Cultur und deren bisherige Einheit des Stils waren. Sie suchen in ihrer Art eine Erlösung, aber nur für die Einzelnen oder höchstens für nahestehende Gruppen von Freunden und Jüngern. Die Thätigkeit der älteren Philosophen geht, obschon ihnen unbewußt, auf eine Heilung und Reinigung im Großen; der mächtige Lauf der griechischen Cultur soll nicht aufgehalten, furchtbare Gefahren sollen ihr aus dem Wege geräumt werden, der Philosoph schützt und vertheidigt seine Heimat. Jetzt, seit Plato, ist er im Exil und conspirirt gegen sein Vaterland.
Es ist ein wahres Unglück, daß wir so wenig von jenen älteren philosophischen Meistern übrig haben und daß uns alles Vollständige entzogen ist. Unwillkürlich messen wir sie, jenes Verlustes wegen, nach falschen Maaßen und lassen uns durch die rein zufällige Thatsache, daß es Plato und Aristoteles nie an Schätzern und Abschreibern gefehlt hat, zu Ungunsten der Früheren einnehmen. Manche nehmen eine eigne Vorsehung für die Bücher an, ein fatum libellorum: dies müßte aber jedenfalls sehr boshaft sein, wenn es uns Heraklit, das wunderbare Gedicht des