Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

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Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann


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den Gegenstand vieler Erzählungen bildete) war auf den Einfall gekommen, eines seiner unehelichen Kinder, ein junges Mädchen aus dem Trentino, an einen Bankbeamten zu verheiraten. Alles war schon im besten Zug gewesen, die jungen Leute selbst im Einvernehmen, als plötzlich die Mutter des Beamten mit Zeter und Mordio erschien: der junge Ehekandidat sei gleichfalls ein Kind Hilperichs. Was der alte Herr vorerst gründlich bestritt. So kam die Sache vors Gericht und bildete lange Zeit das Gelächter der amtlichen Personen und der ganzen Stadt. Mit Neugierde sah ich den alten Mann an, der nun vor dem Richter erschienen war. Sicherlich zählte er mehr denn siebzig Jahre, obwohl seine blauen Augen strahlend und lebhaft waren. Seine hagere und etwas gebogene Gestalt hatte etwas Majestätisches, und dieser Eindruck wurde verstärkt durch das Trotzige, Verbissene, Verächtliche seines Gesichtes. Wenn unter den zusammengezogenen Brauen die Augen verschwanden und die verkniffenen, schmalen Lippen sich hinter dem weißen Bart wie hinter dünnem Buschwerk versteckten, mochte man wohl Furcht empfinden, und das rote Gesicht, das vom Alter weniger versengt schien als von den Leidenschaften, konnte man nicht leicht vergessen. Das ist also der alte Hilperich, dachte ich mir und mußte gleichzeitig lächeln, weil ich sah, daß die Sonne auf die schwarze Kappe und den schwarzen Bart des Richters ein goldenes Emblem gemalt hatte. Das alles sehe ich noch deutlich. Auch den hübschen und verschwiegen aussehenden jungen Mann, den Bankbeamten; er hatte eine Narbe mitten auf der Stirn. Dann seine Mutter, eine sehr dicke Frau, welche fortwährend Schokoladestückchen aus der Tasche zog, wodurch aber die, Redekraft ihrer Zunge keineswegs verringert wurde. Dann das junge Mädchen, aber von diesem will ich jetzt nicht reden. Der Richter wiegte den Kopf, fragte dies und jenes, und seine Klugheit war bald erschöpft.

      Ich weiß nicht mehr, wie ich daheim beim Mittagessen die Sprache auf den alten Hilperich brachte. Ich erzählte die ganze Geschichte, die mir sehr belustigend erschien. Meine Mutter aber verlor sofort ihr munteres Wesen, wurde nachdenklich und entfernte sich vom Tisch. Der Zufall fügte es – ich bin alt genug geworden, um das Wort Zufall nicht ohne ein Gefühl von Andacht hinzuschreiben – daß ich an demselben Tage der jungen Trentinerin wieder begegnete. Wir trafen uns nämlich beim Krämer, wo sie für ein Gewürz, das sie kaufen wollte, den deutschen Ausdruck nicht wußte. Ich machte nun den Dolmetsch, und zwar auf die komischste Weise der Welt, denn ich verstand ja selber nichts von der fremden Sprache. Ich schleppte alles herbei, was in dem Laden zu finden war, und stapelte es vor der schönen Dame auf, wie man einem fremden Monarchen etwa die Reichtümer eines Magazins zeigt. Es gab ein großes Gelächter, und der Krämer selbst, der mein guter Bekannter war, fand sich bei dem Spaß am besten amüsiert.

      Da die junge Bianca, wie ich mit Mühe erfuhr, in der Nähe wohnte, begleitete ich sie nach Hause, und es verursachte uns weiterhin großes Vergnügen, uns zu verständigen. Unsere Mißverständnisse waren so heiter, daß eins das andere übertraf und wir gewiß mehr davon hatten, als von einer regelrechten Unterhaltung. Ich sah, daß sie ein Mädchen aus dem Volk war, und daß es nicht schwer fiel, sie heiter zu stimmen und ihr zu gefallen. Ja, ich gefiel ihr, und meine drollige Zeichensprache, mein Murmeln und Kauderwelsch trieben Tränen des Lachens in ihre schönen Augen.

      Überflüssig, von all den Einzelheiten zu erzählen; nicht lange darauf konnte ich Bianca mit meiner Mutter bekanntmachen. Meine Mutter erinnerte sich sofort daran, was ich ihr von jener Verhandlung erzählt hatte. Sie führte mich beiseite und fragte mich sehr ernst, ob das jene Bianca Spinola sei. Mein unbefangenes Ja machte sie noch ernster und feierlicher, so daß ich besorgt zu werden anfing. Aber ich wußte nicht, was ich daraus machen sollte. Am folgenden Morgen, es war ein Sonntag, gebot sie mir, mich sorgfältiger als sonst anzukleiden, denn ich war immer ein wenig nachlässig darin. Sie nahm mich also wie einen Schuljungen mit sich und führte mich zu einem alten Haus in der Pfannenschmiedsgasse. Wir stiegen zwei knarrende Treppen empor, und meine Mutter zog die Klingel. An der Art ihrer Gebärde sah ich, daß ihr Gemüt heftig bewegt war, und ich fragte sie darum. Aber sie gab mir keine Antwort. Mein Erstaunen wuchs, als ich das Porzellanschildchen an dem gelben, staubigen Gitter sah, welches den Korridor von der Stiege trennte. Hilperich las ich; aber ehe ich meine Mutter von neuem fragen konnte, erschien eine Bedienerin. Meine Mutter zog einen Brief aus der Tasche und sagte, sie wolle auf Antwort warten. Die Frau führte uns in ein großes, leeres Zimmer, welches nichts als einen Spiegel und ein paar Stühle enthielt. Vor dem Spiegel stand ein dünner Mann mit einer Glatze und richtete sich eine rote Krawatte. Unser Eintreten störte ihn nicht im mindesten; ich war erstaunt, denn nie hatte ich ein so verhungertes, grämliches und furchtsames Gesicht gesehen.

      Die Bedienerin kam alsbald zurück und bat meine Mutter, ihr zu folgen. Wieder verging eine Weile, während ich saß und lauerte und mir den Kopf zerbrach über das, was vorging. Der dünne Mann stelzte komisch vor mir auf und ab, murmelte und schielte mich von der Seite an, so daß ich lachen mußte. Endlich öffnete sich die Türe, der alte Rat kam heraus, faßte mich schnell ins Auge, schritt auf mich zu, nahm meinen Kopf zwischen seine beiden Hände, verkniff seine Lippen streng, nickte und küßte mich auf die Stirn. Im Rahmen der Tür stand meine Mutter und sagte mit ganz verweintem Gesicht: Johann, das ist dein Vater. Immer sonderbarer wurde mir zumut, und das Sonderbarste war mir wohl in diesem Augenblick, daß mein Freund mit der roten Krawatte ganz ruhig weiter auf-und abstelzte, als ob er daran gar nichts Auffälliges fände oder es längst vorausgesehen hätte. Es ist wahr, das Wort Vater machte in diesem Augenblick keinen Eindruck auf mich, aber wer will mir das verübeln? Ich erinnere mich, daß ich für meine Mutter ein unbestimmtes Mitleid empfand und daß ich mich im übrigen weit weg wünschte. Auch war ich erstaunt und verlegen und wurde es immer mehr, so daß mir der Schweiß auf die Stirne trat.

      Ich erinnere mich, daß meine Mutter und der alte Mann einander noch lange Zeit gegenübersaßen und über die Vergangenheit plauderten. Der Rat Hilperich, den ich nicht einmal in Gedanken Vater zu nennen wagte, blieb dabei gelassen, ja sogar ein wenig spöttisch. Es fiel mir auf, daß die fernliegendsten und vergessensten Dinge ihm so nahe schienen wie die Gegenwart. Er sprach nicht wie ein alter Mann und nicht wie ein junger Mann, sondern als ob er ein Gebieter über die Zeit und über die Jahre wäre, und als ob es für ihn kein Verschwinden gäbe. Das ist mir freilich jetzt viel deutlicher als damals; denn ich habe ja erst durch ihn gelernt, was menschlich ist, abzuwägen.

      Die Rede kam auch auf mich, auf meinen Beruf und meine Beschäftigung. Die Mutter rühmte meine Fähigkeiten; ihre Augen glänzten dabei, als ob sie von etwas Großem spräche, und ich mußte lachen. Das schien meinem Vater zu gefallen. Er nahm meine Hand, tätschelte sie ein wenig und sah mich halb liebevoll an und halb wie einen seltsamen Zwerg. Plötzlich aber sprang er auf und kreischte mit einer zerbrochenen, gehässigen Stimme: Mittelmann, scheren Sie sich zum Teufel! Und der schweigsame Spaziergänger machte sich wie ein armer Hund auf die Beine. Mein Vater lachte uns triumphierend an und wandte sich dann unvermittelt zu mir. Er habe viele Schreibereien, sagte er, und brauche einen, dem er sein ganzes Vertrauen schenken könne. Er glaube, daß ich nicht auf den Kopf gefallen sei, denn ich sei ja von seinem Blut. Wenn es mir recht sei, möge ich täglich zwei Stunden zu ihm kommen; es wäre nicht umsonst, und meine Stelle beim Amt könne ich ja behalten. Ich erklärte mich bereit; und meine Mutter fing sogleich vor Freude wieder zu weinen an. So entließ er uns.

      Am andern Morgen brachte ein Dienstmann ein herrliches Geschenk für meine Mutter, eine Stehlampe, deren gläserne Kugel von zwei nackten Frauen getragen wurde. Das war ein zarter Beweis für die Gesinnungen meines Vaters, und mit Genugtuung trat ich den Weg zu seinem Hause an. Ich war so in Nachdenken verloren, daß ich beinahe überfahren worden wäre. Beständig sah ich mich an einem Wendepunkt meines Schicksals, das sich glänzend vor mir aufrollte.

      Ich fand meinen Vater in seinem Wohnzimmer. Er war in Unterhosen, betrachtete mich komödiantisch forschend, mit seinem gewohnheitsmäßigen, halb grinsenden Lächeln, doch mit ernst blitzenden Augen. Man hatte ihm gegenüber das Gefühl, daß man stets scharf beobachtet war, und daß nichts seiner Beobachtung entging. Alles an ihm war voll Leben und Lebendigkeit trotz seiner schlottrigen, mageren, baufälligen Gestalt. Das Zimmer war vernachlässigt und unordentlich. Keine Bilder schmückten die Wände. Neben dem Bett hing ein riesenhaftes Löschblatt, vom Gebrauch schwarz marmoriert, und auf dem Boden stand ein Schreibedeckel neben einem eisernen Tintenfaß, denn mein Vater pflegte im Bett zu schreiben. Wäschestücke, Briefe und Schachteln lagen umher; auf einer selben Kommode pendelten zwei Uhren, von denen die eine Mitternacht oder Mittag, die andere


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