Schauer der Vorwelt. Tobias Bachmann

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Schauer der Vorwelt - Tobias Bachmann


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zu hell war für meine, nunmehr an das Dunkel gewohnten Augen. Mit einem letzten Lidflackern blickte ich zurück in den Schuppen, in dem ich mich befunden hatte, und erkannte, vor was ich davon gekrochen war. Mit der Erkenntnis traf mich die Ohnmacht wie ein kalter Schlag, der mir die Besinnung raubte.

      Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in meinem Hotelzimmer. Jemand musste mich noch in der Nacht hierher gebracht, mich entkleidet und ins Bett gelegt haben. Nur wer? Carter? Ich wusste es nicht, und dass es der Alte war, der mich gerettet hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

      Ich fühlte mich leicht benommen und betastete meine Wunden. Viele gab es zu meiner Überraschung nicht. Der Spreißel in meinem Zeigefinger steckte noch immer fest in meinem Fleisch. Hinzu kamen einige blaue Flecke und eine schmerzende Beule am Hinterkopf. Als ich wenig später mit einer Pinzette beschäftigt war, den Spreißel zu ziehen, fiel mir ein, dass dieser an genau derselben Stelle steckte, wo ich jenen Stein aus Kadath berührt hatte.

      War es diese Berührung gewesen, die die schrecklichen Begebenheiten der vergangenen Nacht heraufbeschworen hatte?

      Vom Zimmerservice ließ ich mir warme Suppe und Tee bringen und verbrachte die übrige Zeit des Tages auf dem Zimmer, um über die Rätsel der vergangenen Ereignisse nachzugrübeln. Nachts ließ ich die Lichter brennen und träumte einen traumlosen Schlaf, wie ich meinte.

      Am nächsten Tag suchte ich Carters Wohnung auf, in der Absicht, ihn zur Rede zu stellen. Doch er war nicht da. Dabei war ich mir sicher, dass mir der alte Mann etwas in den Martini gemixt hatte. Anders konnte ich mir die schrecklichen Halluzinationen nicht erklären.

      Und mein anonymer Retter? Auch ihn fand ich nicht. Weder erhielt ich einen Hinweis, noch fand ich den Hinterhof mit seinem Schuppen wieder, um vor Ort auf Spurensuche zu gehen. Was war also dran, an Carters Geschichte über Kadath, an dem Stein, den ich berührt hatte, an der Synchronizität zu Lovecrafts Schriften, deren Erforschung mich ja erst hierher, an diesen grauenvollen Ort geführt hatte? Kingsport wirkte bei Tageslicht unverändert. Es war ein Ort, wie jeder andere.

      Nur was die Pflastersteine anging, war ich mir nicht sicher. Sie waren schwarz. Mir drängte sich die Erkenntnis auf, dass die schwarzen Pflastersteine aus demselben Material sein könnten, wie der Stein, den Carter mir zeigte. Und damit einhergehend plagte ich mich mit weiteren Überlegungen. Etwa der, dass es in Kingsport gar keinen Weg in die Traumlande gab. Jedoch musste Carter einen Weg gefunden haben, die Welt der Träume nach Kingsport zu holen. Kingsport verwandelt sich.

      Kingsport ist Kadath!

      Als ich meine Koffer packte, die offenen Rechnungen beglich und Kingsport verlassen wollte, stieß ich auf eine Reihe bedrohlicher Hindernisse. Ich hatte Kingsport mit dem Zug erreicht, doch die Geleise seien aufgrund einer eingestürzten Brücke nicht befahrbar, weswegen bis auf weiteres der Zugverkehr entfallen würde, wie man mir mitteilte.

      Kein Taxifahrer erklärte sich bereit, mich aus der Stadt herauszubringen. Ein Fußmarsch über die Stadtgrenzen wurde vereitelt, da ich diese nicht finden konnte. Es schien, als liefe ich unentwegt im Kreis herum. Ständig verirrte ich mich in den trostlosen Gassen der Randbezirke Kingsports. Oder Kadaths. Ich glaube immer mehr daran, dass es sich so verhält, wie ich es bereits gemutmaßt habe.

      Als ich einen kleinen Jungen traf und ihn fragte, wie ich hier aus der Stadt herauskommen würde, sagte mir dieser ins Gesicht: »Gar nicht. Es gibt keinen Ausgang. Man ist hier gefangen. Für immer.«

      »Ach ja?«, sagte ich, als seine Mutter aus dem Haus gerannt kam und rief: »Hören Sie nicht auf den Bengel. Er redet nur Blödsinn.«

      Sie gab ihrem Jungen eine Ohrfeige und dieser machte sich mit seinem Fußball von dannen.

      »Vielleicht könnten Sie mir verraten, wie ich aus Kingsport herausfinde.«

      »Versuchen Sie es über den Seeweg«, sagte sie und verschwand wieder im Haus.

      Ich beherzigte ihren Ratschlag und begab mich zum Hafen. Doch betrübt musste ich feststellen, dass es keinen Fährverkehr gab. Ich lief am Kai entlang, um die Fischer und Seeleute zu befragen, doch keiner schien bereit, mich für ein noch so stattliches Entgelt mit seinem Boot zu transportieren. Als die Dämmerung einsetzte, kehrte ich entmutigt zu meinem Hotel zurück. Aber auch hier hatte ich keinen Erfolg. Das Zimmer, das ich heute Morgen geräumt hatte, sei anderweitig vergeben worden. Ein freies Zimmer gäbe es momentan nicht. Und es sei das einzige Hotel der Stadt. Ich war fassungslos. Man hielt mich in der Stadt gefangen und verwehrte mir nun auch noch jegliche Form einer sicheren Zuflucht. Wo sollte ich hin, wenn die Nacht hereinbricht, und die grässlichen und abscheulichen Dinge kommen, die dort in den Schatten lauern und schmatzen und kichern und stöhnen und näherkommen … kriechend näherkommen, um mich zu betasten, zu umschlingen, zu packen und …

      Schließlich wird mir klar: Es gibt keinen Silberschlüssel, mit dem man den Ort des Grauens verlassen könnte. Keinen Physischen zumindest. Stattdessen glaube ich an die Theorie, dass Carter selbst der Schlüssel ist, der einem die Türen in die Traumlande öffnet. Seit jener Nacht suche ich ihn, denn ich beabsichtige keineswegs, fortan hierzubleiben. Im Gegenteil. Ich möchte fliehen. Diesem Wahnsinn entrinnen, bevor er von mir Besitz ergreift.

      Ich muss Carter finden.

      Doch einen solchen gibt es nicht in der Stadt, wird mir gesagt, gleich, wen ich nach dem Verbleib Randolph Carters befrage. Einen Randolph Carter hat es in Kingsport angeblich nie gegeben.

      Die Dunkelheit kommt.

      Ich renne durch die Straßen und Gassen mit ihren schwarzen Pflastersteinen. Dichter Nebel wabert mir entgegen und ich verfluche ihn, da ich deswegen noch weniger im Dunkel ausmachen kann, als es ohnehin schon möglich ist.

      Mein Gepäck habe ich bereits aufgegeben. Es liegt irgendwo am Straßenrand. Wenn es jemand findet, wird er sich an meinen Kleidungstücken nebst einigen Büchern erfreuen.

      Während ich durch die Gassen Kingsports irre, hoffe ich unentwegt darauf, jenes Plattenbaugebäude mit Carters Wohnung darin zu erreichen.

      In meiner Fantasie sehe ich mich, wie ich mit beiden Fäusten gegen Carters Wohnungstür hämmere. Die Tür wird aufgerissen und der alte Mann packt mich am Arm und zieht mich ins Innere seiner schwarzen aber sicheren Höhle. Dort hält er mir zunächst eine Standpauke: »Sehen Sie! Ich habe Sie doch gewarnt! Solche Dinge passieren eben, wenn man alle Warnungen in den Wind schlägt. Weshalb nur haben Sie den Stein berührt? Wieso?«

      Die Wirklichkeit aber sieht anders aus: Nie erreiche ich Carters Wohnung. Genauso wenig, wie ich den Hinterhof erreiche, aus dem mich ein Unbekannter in letzter Sekunde errettete.

      Stattdessen renne ich über den Stadtpark, wo ich vor wenigen Tagen neben Carter herlief, der seinen Einkaufswagen geschoben hatte. Ich befinde mich im relativen Zentrum des Parks, drehe mich im Kreis und beobachte, wie aus allen Richtungen die schwarzen Schatten auf mich zukriechen.

      Keiner wird mich retten.

      Es sei denn, das kriechende Chaos ist die Rettung.

      Meine Erlösung.

      Mit etwas Glück nimmt mich dieses Ding mit, in sein Onyxschloss, das sich hoch oben auf dem unbekannten Kadath befindet, irgendwo in einer kalten Einöde, fern dessen, was wir als Wachzustand und Realität bezeichnen.

      Nyarlathothep wird mich erretten.

      Leben Sie wohl, Carter. Leben Sie wohl.

      Leben Sie …

      Der Hausvermesser

       (Das Arkham-Sanatorium, 2008)

      War es Zufall? Vielleicht hatte ich es geträumt. War alles nur ein Traum, der stetig wiederkehrte? Ein böser und schlechter Traum, den mir


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