Toni der Hüttenwirt Paket 2 – Heimatroman. Friederike von Buchner
Читать онлайн книгу.Polly den Staub ab und las. Sie arbeitete sich langsam durch, vorne an der Treppe bis angefangen ganz nach hinten. Zuerst nahm sie sich die rechte Seite vor und dann die lin-
ke.
An einer verschlossenen Bauerntruhe in einer Ecke fand Polly einen Hinweis.
»Da könnten die alten Sachen von Vater darin sein!« flüsterte sie leise, als könnte sie jemand hören.
Ihre Mutter hatte am Griff mit Kordel einen Pappstreifen festgebunden, wie man ihn früher bei Paketen benutzte. Darauf stand der Name ihres Vaters und eine Jahreszahl.
»Ja, da müssen alle Sachen drin sein, die Vater betreffen. Alles, was in seinem Leben wichtig war, bevor er heiratete. Verflixt! Das Ding ist abgeschlossen«, schimpfte Polly vor sich hin.
Einen Schlüssel hatte sie nicht. Polly sah sich das Schloß an. Es war ein Vorhängeschloß und uralt. Polly setzte sich im Schneidersitz vor die Truhe und dachte nach. Das Ding mit Gewalt zu öffnen, war nicht schwer. Eine Eisensäge lag in der Werkstatt. Aber nach getaner Tat mußte die Truhe wieder verschlossen werden. Polly befühlte immer und immer wieder das Schloß. Sie rüttelte daran, zog. Es ging nicht auf.
»So geht das nicht. Es muß mir etwas anderes einfallen«, überlegte Polly laut.
Dann fiel ihr Blick auf die Schrauben, mit denen das Blech mit den Ösen am Holz befestigt war.
»Das ist es!« freute sich Polly.
Sie lief hinunter in die Küche und holte ein breites Küchenmesser. In die Werkstatt zu gehen und einen Schraubenzieher zu holen, das ließ ihre Ungeduld nicht zu.
»So, du verflixtes Ding! Jetzt wirst du deine Geheimnisse preisgeben!«
Polly drehte eine Schraube nach der anderen aus dem Holz. Das war ganz leicht. Danach ließ sich der Deckel der Truhe aufklappen. Pollys Herz klopfte, als sie die alten Notizbücher ihres Vaters betrachtete. Sie waren feinsäuberlich in offenen Schuhkartons nach Jahren sortiert.
Polly griff sich das Jahr vor der Hochzeit ihrer Eltern heraus und das Jahr davor. Sie blätterte darin. Ihr Vater hatte viel eingetragen. Immer wieder stieß sie auf den Namen Lioba. Er hatte notiert, wann sie in Waldkogel war und was sie gemacht hatten.
Polly blätterte weiter und fand im Adressenteil die Anschrift und Telefonnummer von Lioba Fischer in Köln.
»Aha!« murmelte Polly vor sich hin.
Papier und Bleistift hatte Polly mit auf den Dachboden genommen. Sorgfältig schrieb sie Adresse und Telefonnummer ab. Dann legte sie das Notizbuch zurück. Sie kramte vorsichtig in der Truhe. Weiter unten fand sie eine Holzschatulle mit Briefen. Sie waren alle von Lioba. Pollys Herz klopfte. Sie überlegte, ob sie sie lesen sollte, sah aber dann davon ab. Die Adresse ausfindig zu machen, war eine Sache. Das Briefgeheimnis zu brechen, eine andere.
Polly räumte die Truhe wieder ein. Sie schloß den Deckel und brachte die Schrauben wieder an. Damit ja niemand die Spuren des Küchenmessers sehen konnte, verrieb Polly etwas Staub in die Einkerbungen der alten Flachkopfschrauben. Sie legte die Decke wieder über die Truhe. Jetzt sah alles so aus, wie sie es vorgefunden hatte. Polly machte das Fenster zu und verließ den Speicher.
Polly ging ins Bad und nahm eine Dusche. Hände, Arme und Gesicht waren schmutzig. In ihrem hellblonden Haar klebten Spinnweben. Während Polly das warme Wasser genoß, dachte sie darüber nach, wie sie weiter vorgehen wollte.
Polly fönte ihr blondes Haar und steckte es lose am Hinterkopf auf. Sie zog ein frisches Dirndl an. Es war dunkelblau mit einer hellblauen Schürze und einer blaßblauen Dirndlbluse mit dunkelblauer feiner Spitze an den Ärmeln, dem Ausschnitt und der Knopfleiste. Polly erinnerte sich, wie sie das Dirndl zusammen mit ihrer Mutter gekauft hatte, damals, kurz vor den so schlimmen Ereignissen. Polly hatte das Dirndl in den letzten Jahren nur wenig getragen. Es war wie neu.
Polly besah sich im Spiegel. Sie gefiel sich. Dann setzte sie sich auf das Bett und nahm das Foto ihrer Mutter vom Nachttisch.
»Mutter! Ich will ein bissel Schicksal spielen. Der Vater muß versorgt sein, wenn ich den Achim heirate. Das verstehst du doch, oder? Vielleicht habe ich mich da in etwas verrannt. Vielleicht ist es eine dumme Idee. Aber wenn der Vater diese Lioba einmal so geliebt hat, dann kommen sich die beiden vielleicht wenigstens so nah, daß er jemand hat, den er anrufen kann, jemanden in seinem Alter, der ihm zuhört. Die Hoffnung besteht zumindest, denke ich. Vater braucht zumindest eine Freundin, jemanden zum Reden, eine Vertraute. Wer weiß, Mutter, vielleicht denkt sie auch an ihn? Wer weiß, wie es ihr ergangen ist? Ich will das zumindest herausfinden. Das ist doch nicht schlimm? Was meinst du?«
Polly lauschte in sich hinein. Sie war ruhig. Sie deutete es als gutes Zeichen, daß sie auf dem rechten Weg war. Polly drückte einen innigen Kuß auf das Bild und stellte es zurück an seinen Platz.
Dann ging sie hinunter. Sie setzte sich im Arbeitszimmer ihres Vaters an den großen Schreibtisch und griff zum Telefon. Sie wählte die Nummer in Köln. Der Teilnehmer meldete sich. Es war nicht Lioba Fischer. Polly fragte nach Lioba. Am Telefon war offensichtlich ein junger Mann. Er war sehr hilfsbereit. Er schaute im Kölner Telefonbuch nach. Dort stand keine Lioba Fischer darin. Polly bedankte sich und legte auf.
Dann versuchte sie es über das Internet. Sie benutzte das elektronische Telefonbuch. Sie ließ sich alle Teilnehmer anzeigen, die mit Vornamen Lioba hießen und in Köln und im Umkreis von fünfzig Kilometern um Köln gemeldet waren. Polly druckte sich die Liste aus.
Sie fing an zu telefonieren.
»Guten Tag! Ich heiße Polly und suche aus wichtigen persönlichen Gründen eine Lioba Fischer. Fischer kann der Mädchenname sein. Können Sie mir da bitte weiterhel-
fen?«
Doch Polly fand keine Lioba Fischer. Sie erreichte längst nicht jede Teilnehmerin. Vielleicht sind die anderen bei der Arbeit oder beim Einkaufen, überlegte Polly. Abends, wenn Vater zu Hause war, konnte sie nicht ungestört telefonieren.
Nach einer Stunde gab Polly auf.
»So komme ich nicht weiter!« flüsterte sie vor sich hin.
Sie griff nach ihrer Handtasche und verließ das Haus. Zuerst ging sie noch in den Garten und pflückte einen großen Blumenstrauß.
Dann bestieg Polly ihr Fahrrad und fuhr zum Friedhof. Sie besuchte das Grab ihrer Mutter.
Von einigen Fenstern des Pfarrhauses konnte man den Gottesacker hinter der Kirche gut übersehen. Helene Träutlein, die Haushälterin des Pfarrers, putzte an diesem Morgen Fenster. Sie sah Polly kommen. Sie sah sie am Grab ihre Mutter verweilen. Polly räumte die alten verwelkten Blumen ab. Sie holte frisches Wasser und stellte die frischen Blumen hinein. Dann setzte sich Polly auf die steinerne Grabeinfassung. Dort blieb sie sitzen.
Helene Träutlein putzte das Fenster fertig. Sie putzte das zweite große Fenster und brachte die frischen Scheibengardinen an. Dann ging sie ans dritte Fenster. Sie wunderte sich. Polly saß immer noch beim Grab ihrer Mutter. Das ließ der treuen Seele jetzt keine Ruhe mehr. So lange hatte sich Polly noch nie am Grab ihrer Mutter aufgehalten. Außerdem mußte Polly doch heimgehen und das Mittagessen kochen.
Helene ging zum Pfarrer.
Pfarrer Zandler saß im Garten und las die Kirchenzeitung des Bistums.
»Herr Pfarrer! Da stimmt was net! Da ist was net so, wie es sein soll! Des Madl hat bestimmt einen Kummer. Ich bin jetzt schon beim dritten Fenster und des Madl sitzt immer noch auf der Grabeinfassung beim Grab ihrer Mutter. Also normal ist des net, Herr Pfarrer! Da muß was geschehen! Da kann man doch net einfach zuschauen, oder?«
Pfarrer Zandler sah seine Haushälterin an und lachte, während er die Zeitung zusammenfaltete.
»Nun mal langsam, Helene! Ich verstehe schon, daß du beunruhigt bist. Willst du mir net sagen, von wem du reden tust?«
»Von der Polly! Von der Apollonia Pircher! Wirklich, Herr Pfarrer, da muß was sein! Ich wollte des Ihnen nur sagen!«
Pfarrer Zandler stand auf