Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant


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um es ganz rich­tig zu be­zeich­nen, eine Ein­fäl­ti­ge, was Ihr an­de­ren, Ihr Nor­man­nen, eine ›Null‹ nen­nen wür­det. Ja, se­hen Sie ’mal; das ist eine trau­ri­ge Ge­schich­te und zu­gleich ein merk­wür­di­ger pa­tho­lo­gi­scher Fall. Soll ich Ih­nen er­zäh­len?«

      Selbst­re­dend be­jah­te ich.

      »Nun gut!« fuhr er fort. »Es ist jetzt zwan­zig Jah­re her, dass die Ei­gen­tü­mer die­ses Hau­ses, mei­ne Kund­schaft üb­ri­gens, ein Kind hat­ten, ein Mäd­chen wie je­des an­de­re Mäd­chen auch.

      Aber ich be­merk­te bald, dass, wäh­rend der Kör­per die­ses klei­nen We­sens sich wun­der­bar ent­wi­ckel­te, sein Ver­stand völ­lig zu­rück­b­lieb.

      Es lern­te sehr früh­zei­tig ge­hen, sprach aber kein Wort. Ich schob dies an­fangs nur auf ein­fa­che Dumm­heit; dann stell­te ich fest, dass es sehr gut hör­te, aber nichts ver­stand. Bei hef­ti­gem Geräusch fing es an zu zit­tern, ohne sich über die Ur­sa­chen des­sel­ben klar zu wer­den.

      Es wuchs her­an, war hübsch aber stumm; stumm aus Ver­stan­des­man­gel. Ich ver­such­te mit al­len er­denk­li­chen Mit­teln in sei­nem Kop­fe auch nur den Schim­mer ei­nes Ge­dan­kens zu er­we­cken, aber es half al­les nichts. Ich glaub­te zu be­mer­ken, dass es sei­ne Er­näh­re­rin er­ken­ne, aber so­bald es ent­wöhnt war, kann­te es die Mut­ter nicht mehr. Nie­mals konn­te es die­ses Wort aus­spre­chen, wel­ches die Kin­der als ers­tes stam­meln und die auf dem Schlacht­feld ster­ben­den Sol­da­ten als letz­tes mur­meln, das Wort ›Mut­ter‹. Es ver­such­te ei­ni­ge Male et­was zu stot­tern, ei­ni­ge lee­re Ver­su­che, und dann war es nichts mehr.

      War das Wet­ter schön, so lach­te sie die gan­ze Zeit und stiess da­bei leich­te Schreie aus, dem Zwit­schern der Vö­gel ver­gleich­bar; reg­ne­te es, so wein­te und seufz­te sie in ei­ner ganz trau­ri­gen herz­zer­bre­chen­den Wei­se, ähn­lich wie Hun­de kla­gen, die an ei­ner Lei­che heu­len.

      Sie wälz­te sich gern im Gra­se nach Art der jun­gen Tie­re und lief wie toll um­her; je­den Mor­gen, wenn die Son­ne in ihr Zim­mer schi­en, klatsch­te sie vor Ver­gnü­gen mit den Hän­den. Das­sel­be tat sie auch, wenn man das Fens­ter öff­ne­te, da­mit man sie nur schnell an­zie­hen möch­te.

      Im Üb­ri­gen schi­en sie kei­nen Un­ter­schied zwi­schen den Leu­ten zu ma­chen, we­der zwi­schen ih­rer Mut­ter noch ih­rer Wär­te­rin, zwi­schen ih­rem Va­ter oder mir, zwi­schen dem Kut­scher und der Kö­chin.

      Da ich ihre un­glück­li­chen El­tern sehr gern hat­te, so kam ich fast je­den Tag zu ih­nen, und speis­te auch oft bei den­sel­ben. Hier­bei glaub­te ich zu be­mer­ken, dass Ber­t­ha (dies war ihr Tauf­na­me) die Ge­rich­te zu un­ter­schei­den und das eine dem and­ren vor­zu­zie­hen schi­en.

      Sie war da­mals zwölf Jah­re alt, viel grös­ser als ich und hät­te ih­rer gan­zen Er­schei­nung nach für acht­zehn­jäh­rig gel­ten kön­nen.

      So kam ich auf den Ge­dan­ken, ih­ren Ge­schmacks­sinn zu er­we­cken und mit­tels des­sel­ben zu ver­su­chen, ih­rem Geis­tes­le­ben Ab­wechs­lung zu brin­gen. Ich woll­te sie durch Ver­schie­den­heit der Ap­pe­tits-Äus­se­run­gen durch die gan­ze Stu­fen­lei­ter von Ge­schmacks-Rich­tun­gen, wenn auch nicht ge­ra­de zu be­wuss­ten oder über­leg­ten Ent­sch­lies­sun­gen, so doch we­nigs­tens zu in­stink­ti­ven Un­ter­schei­dun­gen brin­gen, bei de­nen sich dann doch im­mer­hin eine Art ma­te­ri­el­ler Ge­dan­ken­ar­beit voll­zog.

      Wenn man so ihre Nei­gun­gen reiz­te, so konn­te man viel­leicht, na­ment­lich bei sorg­fäl­ti­ger Berück­sich­ti­gung der­je­ni­gen, die am aus­ge­spro­chens­ten auf­tra­ten, eine um­ge­kehr­te Wir­kung des Kör­pers auf den Ver­stand er­zie­len und all­mäh­lich ihr Ge­hirn aus sei­ner bis­he­ri­gen Un­tä­tig­keit auf­we­cken.

      Ich stell­te also ei­nes Ta­ges zwei Schüs­seln, die eine mit Sup­pe und die an­de­re mit sehr süs­sem Va­nil­le-Crê­me vor ihr hin, und ließ sie ab­wech­selnd von bei­den kos­ten Dann über­liess ich ihr die Wahl und sie ass den Crê­me auf.

      In kur­z­er Zeit war sie sehr wäh­le­risch ge­wor­den, so­dass sie ei­gent­lich nur noch den Ge­dan­ken ans Es­sen oder bes­ser ge­sagt, das Ver­lan­gen da­nach im Kop­fe hat­te. Sie er­kann­te die Schüs­seln ganz ge­nau, streck­te die Hän­de nach de­nen aus, die sie wünsch­te, und ver­zehr­te al­les mit Gier. Sie wein­te, wenn man es ihr fort­nahm.

      Nun ver­such­te ich sie auf den Klang der Tisch­glo­cke ein­zuü­ben; es dau­er­te lan­ge, ge­lang aber auch. Es bil­de­te sich zwei­fel­los bei ihr ein un­be­wus­s­ter Zu­sam­men­hang zwi­schen dem Glo­cken­zei­chen und ih­rem Ap­pe­tit, also eine Art Be­zie­hung zwi­schen zwei Sin­nen, eine Wir­kung des einen auf den and­ren und fol­ge­rich­tig ein Ide­en-Zu­sam­men­hang -- wenn man die­se Art von in­stink­ti­vem Zu­sam­men­wir­ken zwei­er or­ga­ni­scher Funk­tio­nen als Idee be­zeich­nen kann.

      Mei­ne Hoff­nung wuchs, und ich dehn­te mei­ne Ver­su­che nun dar­auf aus, ihr die Stun­de der Mahl­zeit auf dem Zif­fer­blatt der Wand­uhr -- und mit wel­cher Mühe! -- be­greif­lich zu ma­chen.

      Lan­ge Zeit hat­te sie für die Be­we­gung der Zei­ger ab­so­lut kein Ver­ständ­nis; aber es ge­lang mir, ihr den Stun­den­schlag ein­zu­prä­gen. Die Sa­che war sehr ein­fach. Ich ließ das Läu­ten der Tisch­glo­cke ein­stel­len, da­ge­gen stan­den wir alle auf, um zu Tisch zu ge­hen, so­bald als der klei­ne Ham­mer des Uhr­werks zum An­schla­gen der Mit­tags­stun­de aus­hob.

      So streng­te ich mich z. B. ver­geb­lich an, ihr das Zäh­len der Schlä­ge bei­zu­brin­gen. Sie stürz­te je­des Mal auf die Türe zu, so­bald sie über­haupt die Uhr schla­gen hör­te, aber all­mäh­lich wur­de es ihr doch klar, dass alle Schlä­ge der Uhr doch, nicht die Es­sens­stun­de an­zeig­ten, und so fing sie an, das Auge, vom Ge­hör un­ter­stützt, mehr wie sonst auf das Zif­fer­blatt zu len­ken.

      Als ich dies be­merk­te, trug ich Sor­ge, je­den Tag zur Mit­tags­stun­de und um 6 Uhr mei­nen Fin­ger auf die Zahl 12 und 6 zu rich­ten, so­bald der so sehn­lich von ihr er­war­te­te Au­gen­blick ein­ge­tre­ten war. Ich konn­te bald be­ob­ach­ten, dass sie an­fing, auf­merk­sam den Be­we­gun­gen der klei­nen bron­ze­nen Zei­ger zu fol­gen, die ich in ih­rer Ge­gen­wart so oft hat­te um das Zif­fer­blatt lau­fen las­sen.

      Sie hat­te es also be­grif­fen; ich möch­te viel­mehr sa­gen, sie hat­te es sich ge­merkt. Es war mir ge­lun­gen, das Be­wusst­sein oder noch bes­ser die Emp­fin­dung der Stun­de in ihr zu er­we­cken, wie man dies, al­ler­dings ohne Hil­fe ei­ner Uhr, bei den Kar­pfen er­reicht, in­dem man ih­nen je­den Tag ge­nau zu der­sel­ben Zeit Fut­ter wirft.

      Nach­dem wir nun ein­mal so­weit wa­ren, er­reg­te jede Art von Zeit­mes­ser, die im Hau­se nur exis­tier­te, ihre Auf­merk­sam­keit in ganz be­son­de­rer Wei­se. Sie ver­brach­te ihre Zeit da­mit, sie zu be­trach­ten, sie zu hö­ren und auf die Glo­cken­schlä­ge zu war­ten.

      Ein­mal pas­sier­te so­gar et­was sehr Ko­mi­sches. Das Schlag­werk ei­ner klei­nen ein­ge­leg­ten Uhr aus der Zeit Lud­wigs XVI., wel­che man am Kop­fen­de ih­res Bet­tes auf­ge­hängt hat­te, war in Un­ord­nung ge­ra­ten. Sie be­merk­te es wohl und war­te­te seit zwan­zig Mi­nu­ten, das Auge un­ver­wandt auf die Zei­ger ge­hef­tet, dass die Uhr zehn schla­gen soll­te. Aber als der Zei­ger die Zahl über­schrit­ten hat­te, war sie ganz ver­wun­dert, nichts zu hö­ren; der­art


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