Du bist die Ruh!. Rudolf Stratz

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Du bist die Ruh! - Rudolf Stratz


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ihm aus der Entfernung zu. Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte die junge Frau — nur um irgend etwas zu sagen: „Er verwöhnt die Kinder viel zu sehr! Jeden Tag schleppt er ihnen etwas Neues ins Haus. Alle Schränke sind schon voll von kaputten Sachen. Sie wissen gar nicht mehr, wohin damit ...“

      Das konnte den Gast natürlich nicht interessieren. Er hatte ja keine Kinder. Seine Junggesellenwohnung irgendwo da drüben über dem Fluss, von deren üppiger orientalischer Einrichtung sich die Damen untereinander zuweilen vom Hörensagen, nach den Berichten ihrer Brüder und Männer, sonderbare Dinge zuflüsterten — die lag jetzt tot und dunkel. Und er sass hier und langweilte sich wahrscheinlich — wenn der abgespannte Ausdruck seines Gesichts nicht auch von den vielen Sorgen einer Stellung wie der seinen kam, an der Spitze der mächtigen Aktienspinnerei und in dieser kritischen Zeit — und bereute es wahrscheinlich schon, dass er hierhergekommen und diese kleine, prüde Norddeutsche da gefunden, mit der nach seinen Begriffen nichts anzufangen war. Aber was hatte er sich denn eigentlich unter der Frau eines Mannes wie Iwan Michels gedacht? Sie frug sich das alles innerlich mit einer wachsenden scheuen Abneigung gegen ihren Nachbar und zwang sich doch, ihm eine freundliche Miene zu zeigen. Er war zu einflussreich, als dass man es jetzt noch einmal mit ihm hätte verderben dürfen.

      „Wie lange sind Sie nun schon in Moskau, gnädige Frau?“ frug er, offenbar auch nur, um das Gespräch im Gang zu halten, und fuhr, als sie erwiderte: „Bald sieben Jahre!“ in seiner halblauten Sprache, die immer einen verschleierten Spott seiner Umgebung gegenüber mehr ahnen als fühlen liess, fort: „Und wie gefällt es Ihnen hier auf dem Dorf?“

      „Auf dem Dorf?“

      „Ja — für was halten Sie Moskau? Ich hab’ nie so viel hundert Kirchen in einem Dorf beisammen gesehen wie hier. Aber der Rest ... sehen Sie — alle meine Bekannten hier — so viel und so verschieden sie sind, leiden an derselben fixen Idee: sie bilden sich sämtlich ein, sich in Europa zu befinden! Ich hab’ sie schon tausendmal zur Wahrheit ermahnt. Wenn wir schon hier mitten in Asien leben, als Nachbarn der Mongolen und Chinesen, dann wollen wir uns doch dessen nicht schämen, sondern es offen eingestehen und gefasst als Philosophen und Baumwollmänner tragen ... aber sie glauben es nicht ...“

      „Komisch, dass Sie das sagen. Sie sind doch gerade der rechte Moskauer durch und durch!“

      „Ja. Ich bin ein Moskowiter!“ Alexander Wieprecht nickte ernst, als gestände er ein schweres Vergehen ein. „Hier geboren ... hier am Leben ... mal hier begraben — ich habe eigentlich kein Recht, über unser Dorf zu urteilen. Mir fehlt der Vergleich mit anderen Städten. Drei Jahre war ich als junger Mensch im Ausland. Dann nie wieder auf längere Zeit.“

      „Und was haben Sie damals da draussen gemacht?“

      „Ich hab’ in Deutschland studiert!“ sagte Wieprecht, wie erstaunt darüber, dass sie das nicht wusste.

      Aber sie hatte es wirklich nicht gewusst. Sie war ganz betroffen darüber. Er erschien ihr nun in anderem Lichte — nähergerückt dadurch, dass er die deutsche Welt westlich der Weichsel und auch die geistige Kultur, aus der sie selbst kam, näher kennen musste als die anderen hier. „Was haben Sie denn studiert?“ forschte sie.

      „Nationalökonomie — Geschichte — auch Philosophie — das klingt komisch für einen Menschen, der täglich Massen von Flanell produziert ... nicht? — Philosophie besonders! In Leipzig — da wollt’ ich mein Doktorexamen machen und dann ganz in dem gelehrten Kram darinbleiben ...“

      „Aber Sie sind nicht Doktor?“

      „Ich musste nach Moskau zurück!“ erwiderte er kurz.

      Marja wollte fragen: Warum? Aber zur rechten Zeit fiel ihr noch ein, was ihr Mann ihr von Alexander Wieprechts Vergangenheit erzählt — von dem plötzlichen Zusammenbruch des väterlichen Hauses — noch jetzt lebten in der Moskauer deutschen Kolonie dunkle Gerüchte von dem seltsam jähen, über Nacht erfolgten Tod des alten Wieprecht — und wie der Sohn die so gut wie fallite Firma, zuerst mit Hilfe der Freunde der Familie, dann selbständig wieder in die Höhe gebracht und Mutter und Schwestern ein auskömmliches Dasein ermöglicht und sich schliesslich zu seiner jetzigen führenden Stellung aufgeschwungen hatte.

      „Schade!“ meinte sie halblaut. Weiter nichts. Und er lachte: „Glauben Sie, dass mir die Philosophie hier beim Baumwollgeschäft auch nur eine Kopeke einbringen würde? Im Gegenteil — das wäre direkt schädlich. Das könnte unsere Gedanken von den Liverpooler Kursen ablenken, und was würde dann aus der Welt? Das vermag sich ein armer Spinner wie ich gar nicht vorzustellen, dass die Baumwolle ’mal eines schönen Tages nicht zehn Punkte niedriger und am nächsten Tage elf Punkte höher stehen könnte. Und etwas Wichtigeres gibt es doch nicht ...“

      „Ja — Sie haben leicht über so etwas zu spotten!“ sagte Marja. Es fiel ihr wieder der himmelweite Unterschied in der Art auf, mit der ihr Gast hier, ihr Mann dort drüben die Krisis auf dem Weltmarkt betrachteten. „Ihnen kann eben nichts passieren. Sie sind der erfahrenste Geschäftsmann hier ...“

      „Wer behauptet denn das?“

      „Alle sagen’s!“ Sie dachte daran, wie vor wenigen Stunden noch draussen im Petrowskipark Mascha Westrup, die bei aller Zerfahrenheit ihres Lebens und Wesens doch eine so ungewöhnlich gescheite Frau war, erklärt hatte, Sascha Wieprecht sei der einzige Mensch, mit dem man ein vernünftiges Wort sprechen könne. Aber das wollte sie ihm nicht erzählen und so versetzte sie nur: „Gerade heute habe ich noch durch Zufall, ehe ich Sie kennen lernte, über Sie gesprochen ... mit meiner Schwiegermutter ...“

      „Oh —.“ Er wurde ein wenig lebhafter. „Wie geht’s ihr? Grüssen Sie sie von mir, wenn Sie sie wiedersehen! Ich hab’ sie gern.“

      „Sie Sie auch!“

      Er lachte. „Wir sind ein wenig verwandte Naturen, in einem Punkt: wir haben so furchtbar wenig Respekt vor unseren Mitmenschen! Sehen Sie — das schätze ich an ihr!“ Er warf einen unwillkürlichen Blick in das Nebenzimmer, wo Iwan Michels immer noch mit gespanntem Gesichtsausdruck das hölzerne Kloster baute, um zu sehen, ob der nicht etwa zuhörte, und fuhr dann leiser fort: „Sie hat immer so gelebt wie sie war, ganz offenherzig und treuherzig. Sie war immer sie selbst — in jedem Augenblick ihres doch recht langen und bewegten Daseins — und hat sich nie um die anderen gekümmert und nie geduldet, dass die in ihr Leben hineingriffen und es ‚in Ordnung‘ brachten! Bei ihr steht alles windschief — kreuz und quer — aber das ist eben sie — ihr Charakter ...“

      „Und seinen Charakter, meinen Sie, soll man von Anfang an so lassen wie er ist? Gar nicht versuchen, etwas an sich zu erziehen und zu bessern? Das sind schöne Grundsätze ...“

      „Man kann seinen Charakter gar nicht ändern — man kann ihn höchstens verlieren. Jeden Tag kommt irgend ein Zeitgenosse und holt sich ein Stückchen ab. Jeder trägt sein Teil davon. Schliesslich bleibt gar nichts mehr übrig.“

      „Und die, die einem nahe stehen ...“

      „... die machen vielleicht manchmal, dass wir uns selbst am fernsten werden! Aber das sagt ein gottloser Junggeselle wie ich. Ich darf darüber nicht mitreden. Bleiben wir lieber bei Mascha Westrup. Sehen Sie, die hat ihre Eigenart verteidigt, zäh — gegen ihre drei Männer und gegen alle Welt. Die Welt hat sie vielfach dafür getadelt — aber ist sie dadurch nicht sich selbst erhalten geblieben — ein jetzt noch vollständiger, wenn auch kränklicher und ältlicher Mensch — wo die meisten nur noch Bruchstücke sind im Lauf der Zeit — vor lauter Opfer und Nachgeben ...?“

      Es war Marja, als höre sie wieder die Einsiedlerin im Petrowskipark reden ... das eine Wort, das in ihr wach geworden und vorhin wieder, beim Blick in das Nachtdunkel auf den Kreml hinaus durch ihre träumende Seele nachgeklungen war: „Du hast deinem Glück viel geopfert — vielleicht zu viel ...“ Sie wusste nicht mehr, hatte Mascha gesagt „deinem Glück“ oder „deinem Mann“. Es war ja auch gleich. Es war ja dasselbe. Und es tönte wieder aus Alexander Wieprechts Worten. Wenn der Madame Westrup lobte, wie sie ihren Weg verächtlich durch die Philister hindurch gefunden, dann meinte er damit wohl auch sich selbst. Die beiden — ihre Schwiegermutter und er — waren sich darin gleich. Nur gab die


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