Frauenlob. Der Roman eines jungen Mannes. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.geworde? Horch nur, wie sie kreische und lache!“
,,Ach — die Leut’ — die viele Leut’!“ Das Elsche verschlang bewundernd die mageren roten Kinderhände über dem fleckigen Schürzchen. „So viel Leut’ hat’s ja gar nit in Heidelberg!“
„Schau’, wie sie sich in die Arme falle — da unten — Leut’ — die sich gar nicht kenne! Guck: der alte Herr da — mit dem weissen Haar — nimmt sein’ Deckel ab und betet auf offener Strass’. Und die Dame da drüben — die müsse sie hebe — so heult sie gerad’ drauf los!“
„Alle Kirchenglocke läute!“ schrie das Kind begeistert. „Oh mei’! Die Leut’ . . . Die arg viel Leut’!“
Die Promenade unten war, im Laternenschein, ein verschwimmendes Gestrudel von Köpfen. Ein Gewirr von Stimmen. Ein Geschrei: Hurrah! Hurrah! Etwas Weisses blinkte auf. Ein Stück Papier. In der Hand eines vierschrötigen älteren Herrn mit groben, klugen, graubärtigen Zügen. Er kletterte schnaufend auf einen Prellstein an der Ecke. Um ihn hoben sich Arme und winkten zur Ruhe:
„Do horcht hin, Ihr Männer!“
„Wer is denn Seller?“
„Der Niethammer! Der Fabrikant aus Mann’em! Der Niethammer steht immer früher auf wie die andere! Der hot’s schon schwarz auf weiss!“
Adam Niethammer räusperte sich, warf einen Blick über die still werdende Menge und las, das Papier unter der Laterne fern von den weitsichtigen Augen haltend, aus dröhnender, breiter Pfälzer Brust:
„Der Königin Augusta in Berlin.
Vor Sedan, den 2. September ½2 Uhr nachmittags.
Die Kapitulation, wodurch die ganze Armee in Sedan kriegsgefangen ist, ist soeben mit dem General Wimpfen geschlossen.“
Alles stumm. Die Masse atemlos. Die starke Stimme:
„Der Kaiser hat sich selbst mir ergeben . . . Seinen Aufenthaltsort werde Ich bestimmen . . . .
Welch eine Wendung durch Gottes Führung!
Wilhelm.“
Noch Stille. Eine Sekunde lang. Der Schauer der Weltgeschichte über der dunklen Menge. Und dann aus dem hellerleuchteten Fenster im ersten Stockwerk ein Ruf. Vom Lichtschein der Lampe umflossen stand da, allen sichtbar, die Samaritermütze schräg auf dem Kopf, der Professor Hermann Ritter. Er riss die Kappe ab. Er schwenkte sie. Er jubelte, mit seiner schönen, schwingenden Tenorstimme, die wie ein schmetternder Trompetenstoss die Nacht durchschnitt:
„Hoch Deutschland! Hoch das geeinte deutsche Vaterland!“
Und über dem jauchzenden Massen-Aufschrei, der unter seinen Worten unten aufdröhnte, wie der Donner nach dem Blitz, flammte noch einmal sein gläubig bebender Tenor.
„Nichts kann die deutsche Einheit mehr aufhalten! Hoch das neue heilige Reich deutscher Nation!“
Der kleine, beleibte Schulmann in Kriegstracht trat in das Zimmer zurück. Er liess die Arme sinken. Grosse Tränen liefen ihm, unter der goldenen Brille, über das begeisterte Gesicht. Er schaute, durch den weissen Schleier, zu der weissen Stuckdecke empor. Er schlug die nassen, feurigen Augen auf. Sein Herz hämmerte es, was seine Lippen nur leise beteten: „Komme du bald, oh Kaiser! . . . . . . .“
Die beiden Sekundaner, der Sascha und der Albert, waren unten auf der Strasse — sie wussten selbst nicht wie. Sie hatten das Gefühl: sie gehörten da hinaus — unter die anderen. Alles gehörte jetzt zusammen in dieses Brausen — diese Brandung — diese Menschenwogen durch die Gassen. An allen Häusern waren alle Fenster hell. An allen Fenstern standen Leute und winkten und riefen hinunter und die Damen wehten mit Tüchern. Wagen mit fähnchenschwingenden Kindern fuhren im Schritt durch das Gewühl.
Aus dem Seitenschiff der Providenzkirche fiel Lichtschein. Der Kirchenrat selber sperrte das Gotteshaus auf. Die Frau Pfarrerin schleppte einen Arm voll Kerzen, und die Leute strömten hinterher, und die ersten Orgelklänge schwollen durch das Helldunkel, und oben vom Turm dröhnten die Glocken, und St. Peter und Heiliggeist antworteten mit ihren ehernen Klöppeln, und von der Jesuitenkirche läutete es zum Sternenhimmel empor. Und drüben auf dem Marktplatz neben dem Hotel „Prinz Karl“ stand die Menge Kopf an Kopf vor dem Rathaus. Von dem hingen grosse badische Fahnen, und Stadtväter standen auf dem Balkon und sprachen hinunter zu dem Volk. Und wieder wuchs aus dem Hurrah, alles überrauschend, tausendstimmig die Wacht am Rhein. Ein Zug formte sich — weiter die Hauptstrasse entlang — nach dem kleinen Grossherzoglichen Palais am Karlsplatz. Sascha Kersting marschierte mit und sang — in einer Art glücklicher Betäubung — Arm in Arm rechts mit dem Albert — links mit irgend einem jungen Mann aus dem Volke. Einer unter vielen — ein Stück des grossen, heiligen Ganzen, in einem Gefühl, das in ihm, dem hochmütig-isoliert aufgewachsenen, den Hebräer, den Muschik, den Hafenarbeiter, den Tataren verachtenden Patriziersohn von Odessa erst allmählich in diesen Jahren in der Fröhlichen Pfalz aufgegangen: in dem Gefühl, zu einem Volk zu gehören und mit ihm eins zu sein — und jetzt den Stolz und Jubel eines Volkes als Gleichberechtigter zu teilen.
Da hörte er — in Schritt und Tritt marschierend und begeistert singend — vom Hotel „Prinz Karl“ her eine Mädchenstimme: „Sascha! Sascha!“ Der. Umriss einer Modedame mit wespendünnem Oberkörper und weitgewölbter Rockrundung hob sich weiss, mit dunklen Querstreifen, von der Helle der Hotelhalle ab. Die Cousine Katja stand da. Beugte sich vor. Rief ihm zu:
„Sascha! Du lebst im Traum! Du läufst ja am Hotel vorbei!“
Wohl oder übel musste er seine Kameraden loslassen und zu ihr treten. Das schöne Gesicht der jungen Deutsch-Russin zeigte ernstlichen Unmut.
„Bist du der Zar?“ sagte sie aufgeregt. „Bist du der Gouverneur. — dass du Papa warten lässt? Man hat dich auf acht Uhr zum Tee geladen. Und jetzt ist es beinahe neun!“
„Da denken diese Menschen wirklich in diesem Augenblick an’s Teetrinken . . .“, Sascha Kersting sah die Odessaer Cousine träumerisch an. Sie war doch sehr schön. „Habt Ihr denn Watte in den Ohren? Wisst Ihr denn nicht, was passiert ist?“
„Ja gerade . .“ Katja Gebauers längliche, bräunliche Züge waren unruhig. „Ich weiss nicht, was mit Papa los ist! So hab’ ich ihn noch nie gesehen! Er ist wie vom Donner gerührt, seit das Extrablatt kam . . . Er sitzt einfach da . . .“
„Das werden heute manche Leute in Europa!“ Sascha lächelte mit der Überlegenheit des jungen Weltkenners. Ich hab’s deinem Vater ja gleich gesagt! Der alte Herr war einfach verbohrt und hat auf den Sieg Napoleons spekuliert! Er hat sicher einen Haufen Wechsel auf Frankreich im Portefeuille, die er jetzt im Café Fanconi in der Deribassowskaja, bei Euch in Odessa meistbietend versteigern lassen kann! Voilà l’affaire! Nitschewo! Eure Firma kann schon einen gehörigen Puff vertragen!“
„Das natürlich! Er spricht mit Mama und mir nie von Geschäften! Er antwortet uns jetzt überhaupt nicht auf unsere Fragen! Vielleicht, dass du mehr Chance hast! Komm herein!“
Im Hotelzimmer sass Otto Gebauer beim Tee. Er hielt die Tasse halbwegs zwischen dem weissen Tischtuch und seinem grauen Vollbart unbewegt in der Luft und starrte über ihren Rand weg leer in die Ferne. Über sein feingefurchtes Gesicht zogen sich, von den inneren Augenwinkeln herunter zum verbissenen Mund, zwei fremdartige, ihn viel älter machende Falten, die sein Neffe bisher nicht an ihm gesehen.
„Guten Abend!“ sagte Sascha forsch und laut. „Na — wer lacht jetzt?“
Der alte Herr drehte ihm den Kopf zu und blieb stumm. Sascha näherte sich ihm.
„Also ich bin stolz! Ich hab’ ja so recht behalten! Ich hab’ an die gute deutsche Sache geglaubt! Und gleich darauf hat unser Herrgott auch schon ein Einsehen!“ Er schaute in dem matt von einer grossen Petroleum-Lampe erhellten Raum umher. „Ja — freut Ihr Euch denn eigentlich gar nicht?“
Die beiden Damen schwiegen mit besorgten Mienen. Der alte Handelsherr versetzte trocken, in einem gepressten und schluckenden Ton:
„Und