Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Читать онлайн книгу.Dann hatten Alle zu lachen und sich auf die Schenkel zu schlagen angefangen, so daß Renée, der die Sache unheimlich zu werden begann, sich erhob und gleichfalls gähnend zu ihrem Begleiter sagte:
»Gehen wir; die Leute sind zu einfältig.«
Als sie hinausschritten, kam Herr von Mussy herein. Er schien sehr erfreut, Maxime zu begegnen und ohne auf die vermummte Dame zu achten, die jener am Arm führte, flüsterte er ihm schmachtenden Tones zu:
»Ach, mein Freund, Renée wird schuld sein, wenn ich einen Selbstmord begehe. Ich weiß, daß es ihr besser geht und doch will sie mich nicht vorlassen. Sagen Sie ihr, Sie hätten Thränen in meinen Augen gesehen.«
»Seien Sie unbesorgt, Ihr Auftrag soll ausgeführt werden,« erwiderte der junge Mann mit einem eigenthümlichen Lachen.
Auf der Treppe wandte er sich mit den Worten zu Renée:
»Nun, Stiefmama, Du empfindest kein Mitleid mit dem armen Jungen?«
Sie zuckte mit den Schultern, ohne eine Antwort zu geben. Auf der Straße angelangt, blieb sie stehen, bevor sie in den Fiaker stieg, der auf sie gewartet und blickte zögernd nach rechts und links. Es war kaum halb zwölf Uhr und reges Leben herrschte noch auf den Boulevards.
»Wir fahren also nach Hause?« fragte sie bedauernd.
»Ja, sofern wir nicht noch eine Rundfahrt über die Boulevards antreten wollen,« erwiderte Maxime.
Sie willigte ein. Ihre Neugierde hatte keine volle Befriedigung erfahren und es ärgerte sie, daß sie um eine Illusion ärmer und mit beginnendem Kopfschmerz heimkehren sollte. Lange Zeit hindurch war sie der Ansicht gewesen, ein von Schauspielerinen veranstalteter Ball müsse die kurzweiligste Sache von der Welt sein. Wie es mitunter der Fall ist, hatten die letzten Tage des Oktober einen neuen Frühling in's Land gebracht; die Nacht war lau wie im Mai und der kältere Lufthauch, welcher sich von Zeit zu Zeit fühlbar machte, wirkte nur anregend. Schweigend blickte Renée zum Fenster hinaus auf die wogende Menschenmenge, auf die Kaffeehäuser und Restaurants, die an ihr vorüberglitten. Sie war in eine ganz ernste Stimmung gerathen und in das unbestimmte Sinnen verloren, welches unausgesprochene Wünsche in den Frauen erregen. Das breite Trottoir, über welches die Kleider der Mädchen dahinfegten und auf welchem die Schuhe der Männer mit so eigenthümlich vertrautem Klang sich vernehmbar machten, der graue Asphalt, welcher der Tummelplatz der Vergnügungen und der käuflichen Liebe zu sein schien, erweckte neuerdings die in ihr schlummernden Wünsche und ließ sie den langweiligen Ball vergessen, welchen sie soeben verlassen, um ihr andere, höhere Freuden zu zeigen. Hinter den Fenstern der Sonderzimmer des Restaurants Brébant sah sie von den weißen Vorhängen weibliche Schatten sich abheben und dabei erzählte ihr Maxime die sehr gewagte Geschichte eines betrogenen Gatten, der auf diese Weise den Schatten seiner Gattin in flagranti mit dem Schatten ihres Liebhabers überrascht hatte. Sie hörte ihm kaum zu. Er aber wurde gesprächiger und ihre Hände erfassend, begann er sie zu necken, indem er von dem armen Mussy sprach.
Sie fuhren abermals bei Brébant vorüber und da sagte sie mit einem Male:
»Weißt Du, daß mich Herr von Saffré heute Abend zum Souper geladen hat?«
»Da würdest Du schlecht gespeist haben,« erwiderte er lachend. »Saffré hat keinen Dunst von kulinarischen Genüssen, er kommt über den Hummernsalat nicht hinaus.«
»Nein, nein; er sprach von Austern und kaltem Rebhuhn. Doch duzte er mich und das war mir nicht recht.«
Sie schwieg, blickte abermals auf den Boulevard hinaus und fügte nach einer Weile verzagten Tones hinzu:
»Das Schlimmste an der Sache ist, daß ich einen fürchterlichen Hunger habe.«
»Wie! Du bist hungrig?« rief der junge Mann aus. »Nun, dann gehen wir ganz einfach mit einander soupiren ... Willst Du?«
Er sagte das ganz ruhig und natürlich; sie aber lehnte unter Hinweis auf Céleste ab, die ihr daheim sicherlich einen schmackhaften Imbiß vorbereitet hatte. Er aber hatte, da er nicht ins Café Anglais gehen wollte, den Wagen an der Ecke der Rue le Peletier, vor dem Restaurant des Café Riche anhalten lassen, war abgestiegen und da seine Stiefmutter noch immer zögerte, so sagte er:
»Wenn Du fürchtest, daß ich Dich kompromittire, so sage es ... Ich werde mich dann neben den Kutscher setzen und Dich zu Deinem Gatten nach Hause bringen.«
Sie lächelte und stieg aus dem Wagen mit dem Gehaben eines Vogels, der sich die Füße zu beschmutzen fürchtet. Sie strahlte vor Freude. Dieses Trottoir, welches sie unter den Füßen spürte, wärmte ihr die Sohlen und ließ sie einen ganz leisen, doch nur um so köstlicheren Schauder der Furcht und der befriedigten Laune empfinden. Seitdem sich der Fiaker wieder in Bewegung gesetzt, hatte sie ein unbändiges Verlangen gefühlt, aus demselben zu springen. Mit kleinen Schritten kam sie über das Trottoir, als hätte ihr die Furcht gesehen zu werden ein Vergnügen bereitet. Ihr muthwilliger Streich nahm ganz entschieden eine Wendung zum Abenteuerlichen. Nein, sie bedauerte nicht, die brutale Einladung des Herrn von Saffré abgelehnt zu haben; dagegen wäre sie unmuthig und zornig heimgekehrt, wenn Maxime nicht auf den Gedanken gekommen wäre, ihr von der verbotenen Frucht zu verkosten zu geben. Der junge Mann schritt die Treppe rasch empor, als fühlte er sich zu Hause. Sie folgte ihm ein wenig außer Athem. Ein Geruch nach Fischen und Wildpret erfüllte die Luft, und von dem Teppich, der mittelst Messingstäben an den Treppenstufen festgehalten war, ging ein Staubgeruch aus, der ihre Erregung noch vermehrte.
Im Halbstock angelangt, begegneten sie einem würdevoll aussehenden Kellner, der zur Seite trat, um sie vorübergehen zu lassen.
»Charles,« sagte Maxime zu ihm, »Sie werden uns bedienen, nicht wahr? ... Geben Sie uns den weißen Salon.«
Charles verneigte sich, stieg wieder einige Stufen hinauf und öffnete die Thür eines Kabinets. Das Gas war halb abgedreht und es schien Renée, als beträte sie im Dämmerlicht einen verdächtigen, aber reizenden Ort.
Ein unablässiges Rollen drang durch das weit geöffnete Fenster und der Lichterglanz der gegenüberliegenden Kaffeehäuser warf die Schatten der Passanten auf die Decke des Zimmers. Mit einem Druck des Fingers ließ der Kellner das Gas heller brennen. Die vorüberhuschenden Schatten an der Decke verschwanden und das Kabinet füllte sich mit grellem Licht, welches voll auf den Kopf der jungen Frau fiel. Diese hatte ihre Kapuze bereits zurückgeschlagen. Die kleinen Haarlöckchen waren während der Fahrt ein wenig in Unordnung gerathen; das blaue Band aber saß unverrückt an Ort und Stelle. Sie begann hin- und herzugehen, denn der Blick, mit welchem Charles sie betrachtete, war ihr lästig. Der Mann hatte eine Art, die Augen zuzudrücken und die Brauen zusammenzuziehen, um sie zu sehen, die ganz deutlich besagte: »Das ist Eine, die ich noch nicht kenne.«
»Was soll ich auftragen, mein Herr?« fragte er laut.
Maxime wendete sich zu Renée und sagte:
»Das Souper des Herrn von Saffré, nicht wahr? Austern, kaltes Rebhuhn ...«
Und da Charles den jungen Mann lächeln sah, lächelte auch er ein wenig, indem er leise sagte:
»Das Souper vom Mittwoch also, wenn Sie wünschen?«
»Das Souper vom Mittwoch ...« wiederholte Maxime, um, sich besinnend, hernach hinzuzufügen:
»Ja, mir ist's gleich; geben Sie uns das Souper vom Mittwoch.«
Als der Kellner hinaus gegangen war, nahm Renée ihren Stecher hervor und blickte neugierig in dem kleinen Salon umher. Es war das ein viereckiger, in Weiß und Gold gehaltener Raum mit der koketten Einrichtung eines Boudoirs. Außer dem Tische und den Stühlen war ein niedriges Möbelstück, eine Art Konsole vorhanden, auf welchem die abgeräumten Schüsseln niedergesetzt wurden, des Ferneren ein breiter Divan, ein wirkliches Bett, welcher zwischen dem Kamin und dem Fenster stand. Auf der weißen Marmorplatte des Kamins sah man eine Stutzuhr und zwei Armleuchter im Stile Ludwigs XVI. Das vornehmste Stück des Kabinets bildete aber der Spiegel, ein schöner geschliffener Spiegel, welchen die Diamanten der Damen mit Namen, Daten, verstümmelten Versen, absonderlichen Gedankensplittern und erstaunlichen