Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Читать онлайн книгу.fügte er mit seinem hellen Lachen hinzu:
Meine Tante Claire sieht aber heute gespitzt aus! ... Sag', Herr: ist es wahr, daß du ihr des Nachts die Füße wärmst?
Florent war verdutzt über diese Reden und faßte ein eigentümliches Interesse für diesen Knaben. Die schöne Normännin verharrte in ihrer grollenden Haltung und ließ ihr Kind zu ihm gehen, ohne ein Wort zu sagen. Da hielt sich Florent für ermächtigt, ihn bei sich zu sehen; er rief ihn jeden Nachmittag und kam allmählich auf den Gedanken, einen vernünftigen Jungen aus ihm zu machen. Ihm war, als werde sein Bruder Quenu wieder klein, und als träfen sie sich noch jeden Abend in der großen Stube der Royer-Collard-Straße. Seine Freude, sein geheimer Traum von Hingebung war: stets in Gesellschaft eines jungen Wesens zu leben, das nicht wachsen würde, das er immerfort unterrichten, in dessen Unschuld er die Menschen lieben würde. Am dritten Tage brachte er ein Alphabet mit. Feinchen entzückte ihn durch seine Klugheit. Er erlernte die Buchstaben mit der Aufgewecktheit des Pariser Gassenjungen. Die Bilder des Lesebuches ergötzten ihn außerordentlich. Nach dem Unterricht hielt er sich lange in dem Büro des Aufsehers auf. Der Ofen blieb sein guter Freund, ein Gegenstand endloser Freuden. Anfänglich briet er da Kartoffeln und Kastanien; doch das wurde ihm bald langweilig. Er stahl seiner Tante Claire Gründlinge, die er einzeln vor der glühenden Öffnung des Ofens briet und dann ohne Brot, mit Wonne aß. Eines Tages brachte er sogar einen Karpfen; aber der Fisch wollte nicht gar werden und verpestete das Büro dermaßen, daß man Türe und Fenster öffnen mußte. Wenn der Gestank allzu arg wurde, warf Florent die Fische auf die Straße; aber zumeist lachte er nur. Nach Verlauf von zwei Monaten konnte Feinchen geläufig lesen, und seine Schreibhefte waren sehr sauber.
Des Abends schwatzte der Junge seiner Mutter den Kopf voll von seinem guten Freunde Florent. Der gute Freund Florent habe Bäume gezeichnet und Menschen, die in Hütten wohnen. Der gute Freund Florent pflege zu sagen, die Menschen seien besser, wenn alle lesen könnten. So ward die schöne Normännin immer mehr mit dem Manne bekannt, den sie am liebsten erdrosselt hätte. Einmal sperrte sie Feinchen einen ganzen Tag über zu Hause ein, damit er nicht zu dem Aufseher gehen könne; allein der Junge weinte dermaßen, daß man ihn am nächsten Tage freilassen mußte. Trotz ihrer Keckheit und ihrer dreisten Miene war sie sehr schwach. Wenn der Knabe ihr erzählte, daß er es gut warm gehabt, und wenn er mit getrockneten Kleidern zurückkam, empfand sie eine gewisse Dankbarkeit, ein Gefühl der Zufriedenheit, ihn in guter Hut, die Beinchen vor dem Feuer zu wissen. Später war sie sehr gerührt, wenn er ein Zeitungsblatt, in das eine Schnitte Meeraal gewickelt war, vor ihr ablesen konnte. So kam sie allmählich auf den Gedanken, ohne es zu sagen, daß Florent vielleicht kein schlechter Mensch sei; sie empfand vor seiner Bildung Achtung, gepaart mit einer steigenden Neugierde, ihn in der Nähe zu sehen, sein Leben kennen zu lernen. Dann ersann sie plötzlich einen Vorwand und redete sich ein, daß sie ihre Rache gefunden habe: sie mußte liebenswürdig mit dem Vetter sein und ihn mit der schönen Lisa entzweien; das sei noch spaßiger.
Spricht dein guter Freund Florent nicht von mir? fragte sie eines Tages Feinchen, während sie ihn ankleidete.
O nein! antwortete das Kind; wir unterhalten uns.
Nun wohl, sage ihm, daß ich ihm nicht mehr grolle und ihm dafür danke, daß er dich lesen lehrt.
Seither hatte das Kind jeden Tag einen Auftrag. Er ging von seiner Mutter zum Aufseher und vom Aufseher zu seiner Mutter und überbrachte freundliche Worte, Fragen und Antworten, die er wiederholte, ohne die Sache zu begreifen. Man hätte ihn die ungeheuerlichsten Dinge hersagen lassen können. Allein die schöne Normännin fürchtete, scheu zu scheinen, und so kam sie eines Tages mit und setzte sich auf den zweiten Stuhl, während Feinchen seine Schreibstunde hatte. Sie war sehr sanft und sehr freundlich. Florent war sehr verlegen. Sie sprachen nur von dem Kinde. Da er die Besorgnis ausdrückte, daß es ihm nicht möglich sein werde, den Unterricht in seinem Büro fortzusetzen, lud sie ihn ein, er möge des Abends zu ihnen kommen. Dann sprach sie von Geld; er errötete und sagte, er werde nicht kommen, wenn davon die Rede sei. Da versprach sie, ihm seine Mühe mit Geschenken, mit schönen Fischen zu vergelten.
Man schloß Frieden. Die schöne Normännin nahm Florent sogar unter ihren Schutz. Man ließ sich schließlich den Aufseher gefallen, und die Fischweiber fanden, daß er trotz seiner schlechten Augen ein strammerer Mann sei als Herr Verlaque. Nur Mutter Méhudin zuckte mit den Achseln; sie bewahrte ihren Groll gegen den »langen Mageren«, wie sie ihn in verächtlicher Weise nannte. Eines Morgens, als Florent lächelnd vor den Fischbehältern Claires stehen blieb, ließ das Mädchen einen Aal fahren, den es gerade in der Hand gehabt und wandte dem Aufseher, rot vor Zorn, den Rücken. Er war davon dermaßen überrascht, daß er die schöne Normännin befragte.
Lassen Sie gut sein, sie ist ein Tollkopf! ... Sie hat immer ihre eigenen Gedanken und hat es nur getan, um mich zu ärgern.
Sie triumphierte; stolz aufgerichtet stand sie hinter ihrer Fischbank, koketter als je, mit sehr verwickeltem Haarputz. Als sie Lisa begegnete, erwiderte sie ihren verächtlichen Blick, ja sie lachte ihr ins Gesicht. Die Gewißheit, daß sie durch Gewinnen des Vetters die Metzgerin in Verzweiflung versetzen werde, gab ihrem Lachen einen hellen Klang; es war ein Lachen aus voller Brust, daß ihr weißer, fetter Hals davon erzitterte. Zu jener Zeit kam sie auf den Gedanken, Feinchen sehr hübsch zu kleiden mit einer kleinen schottischen Jacke und einer Samtmütze. Feinchen hatte bisher immer nur eine zerfetzte Bluse getragen. Zu jener Zeit wurde Feinchen wieder von einer großen Vorliebe für die Wasserleitung erfaßt. Das Eis war geschmolzen, das Wetter war milde. Er gab der schottischen Jacke ein Bad, indem er das Wasser voll aus dem Rohr auf seine beiden Arme fließen ließ, was er Dachtraufe spielen nannte. Seine Mutter überraschte ihn in Gesellschaft von zwei anderen Jungen, wie sie in der mit Wasser gefüllten Samtmütze zwei kleine weiße Fische schwimmen ließen, die er der Tante Claire gestohlen hatte.
Florent lebte nunmehr seit nahezu acht Monaten in den Hallen, gleichsam von einem fortwährenden Schlafbedürfnis niedergehalten. Nach seinen sieben Leidensjahren war er jetzt in eine solche Ruhe, in ein dermaßen geregeltes Leben geraten, daß er sein Dasein kaum fühlte. Er überließ sich willenlos diesem Leben mit ziemlich leerem Kopfe, immer wieder davon überrascht, sich jeden Morgen auf demselben Sessel in dem engen Büro wiederzufinden. Dieser kahle, knappe Raum gefiel ihm. Er flüchtete dahin, war da fern von der Welt mitten in dem ewigen Geräusch der Hallen, das ihn an ein großes Meer erinnerte, dessen endlose Fläche ihn von allen Seiten umgab und einschloß. Aber allmählich bemächtigte sich seiner eine dumpfe Unruhe; er war unzufrieden, warf sich Fehler vor, die er nicht genau bestimmen konnte, lehnte sich gegen die Leere auf, die in seinem Hirn und in seiner Brust sich immer mehr auszubreiten schien. Der üble, fade Geruch der Fische fuhr mit einem Hauche über ihn hinweg, der ihm Ekel verursachte. Es war ein langsames Ausdenfugengehen, ein unerklärliches Unbehagen, das zu einer lebhaften Überreizung der Nerven wurde.
Alle seine Tage glichen einander. Er wandelte in denselben Geräuschen, in denselben Gerüchen einher. Am Morgen betäubte ihn das Getöse der Versteigerung wie fernes Glockengeläute; und je nach der Langsamkeit der Zufuhr endete die Versteigerung oft sehr spät. Er blieb dann im Pavillon bis Mittag, jeden Augenblick gestört durch Streitigkeiten und Beschwerden, bei denen er bemüht war, sich sehr gerecht zu zeigen. Es währte oft stundenlang, bis er irgendeinen erbärmlichen Handel, der den ganzen Markt in Aufruhr brachte, geschlichtet hatte. Er schritt durch die Menge und das Geräusch des Marktes dahin, wandelte langsamen Schrittes durch die Gänge, blieb zuweilen vor den Fischhändlerinnen stehen, deren Bänke bei der Rambuteau-Straße standen. Es sind da große Haufen rosiger Krabben, rote Körbe voll gesottener Seekrebse, während die lebenden Seekrebse platt auf dem Marmortische lagen und langsam verendeten. Hier sah er oft zu, wie Herren in feinen Hüten und schwarzen Handschuhen feilschten und schließlich einen gesottenen Seekrebs, in Zeitungspapier gewickelt, in der Tasche ihres Überrockes heimtrugen. Weiterhin vor den fliegenden Tischen, wo die gewöhnlichen Fische verkauft werden, erkannte er die Frauen aus dem Stadtviertel, die im bloßen Haar immer zur selben Stunde kamen. Zuweilen interessierte er sich für irgendeine fein gekleidete Dame, die ihre Spitzen über die nassen Steine schleppte, gefolgt von einer Magd mit weißer Schürze; eine solche begleitete er dann in einiger Entfernung und beobachtete, wie sie mit angewiderter Miene die Schultern zuckte. Dieses Durcheinander von Handkörben, Ledersäcken, Rundkörben,