Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

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Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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entwarf. Nach und nach entwarf er eine vollständige Reform des Verwaltungssystems der Hallen, eine Umwandlung der Verbrauchsabgabe in eine Taxe auf die Verkaufsabschlüsse, eine neue Aufteilung der Lebensmittelversorgung in den armen Stadtvierteln, kurz ein neues menschenfreundliches Gesetz, das – vorläufig in einer noch ziemlich verworrenen Weise – die einlangenden Zufuhren gemeinsam einlagerte und sodann jedem Haushalte in Paris ein Mindestmaß an Nahrungsmitteln zusicherte. Mit gekrümmtem Rücken in seinen ernsten Plänen versunken, zeichnete sich sein großer schwarzer Schatten in dem sanften Lichte des Dachstübchens ab. Ein Fink, den er an einem frostigen Wintertage in den Hallen eingefangen hatte, stieß – durch das Licht getäuscht – zuweilen einen Ruf aus inmitten der tiefen Stille, die nur das Geräusch der über das Papier fliegenden Feder unterbrach.

      Verhängnisvollerweise kehrte Florent zur Politik zurück. Er hatte durch sie zuviel gelitten, um sie nicht zur Lieblingsbeschäftigung seines Lebens zu machen. Ohne die Umgebung und die Umstände, in die er geraten war, wäre er ein guter Provinzlehrer geworden, der glücklich in dem stillen Frieden seines Städtchens dahinlebt. Allein man hatte ihn wie einen Wolf behandelt und durch seine Verbannung hielt er sich gleichsam für eine Kampfarbeit ausersehen. Sein nervöses Unbehagen war nur ein Wiedererwachen seiner langen Betrachtungen auf Cayenne, seiner Verbitterung wegen unverdienter Leiden, seiner Schwüre, eines Tages Rache zu nehmen wegen der mit Peitschenhieben traktierten Menschheit und der mit Füßen getretenen Gerechtigkeit. Die riesigen Hallen, die in Überfluß aufgehäuften, kräftigen Nahrungsmittel hatten den Zustand nur beschleunigt. Sie schienen ihm das befriedigte und verdauende Tier, das vollgefressene Paris, das seine Wohlgenährtheit hegt und das Kaiserreich stützt. Sie zeigten rings um ihn her riesige Brüste, ungeheure Lenden, runde Gesichter, gleich fortwährenden Beweisgründen gegen seine Magerkeit eines Märtyrers, gegen sein gelbes Antlitz eines Unzufriedenen. Es war der Bauch des Krämers, der Bauch der Durchschnittsehrbarkeit, der sich zufrieden wölbte, in der Sonne glänzte und fand, daß alles aufs beste bestellt sei, daß es für die friedfertigen Leute niemals ein so schönes Gedeihen gegeben. Dann fühlte er, wie seine Fäuste sich kampfbereit ballten, und er war noch schlimmer gereizt durch die Erinnerung an seine Verbannung als zur Zeit seiner Rückkehr nach Frankreich. Der Haß hatte ihn wieder völlig in seiner Gewalt. Oft ließ er die Feder sinken und vertiefte sich in seine Träumerei. Das erlöschende Feuer warf einen roten Schein auf sein Antlitz; die Lampe verkohlte langsam und der Fink schlief auf einem Bein, den Kopf unter dem Flügel.

      Den Lichtschein unter der Türe sehend klopfte August manchmal noch um elf Uhr an, ehe er schlafen ging. Florent öffnete ihm nicht ohne Unmut. Der Metzgergehilfe saß dann vor dem Feuer, sprach wenig und sagte niemals, weshalb er gekommen. Er betrachtete immerfort die Photographie, die ihn und Augustine darstellte Hand in Hand im Sonntagsstaate. Florent glaubte schließlich zu begreifen, daß August ganz besonderes Gefallen finde an dieser Stube, in der seine Verlobte gewohnt hatte. Eines Abends fragte er ihn lächelnd, ob er richtig geraten habe.

      Vielleicht ja, erwiderte August, sehr überrascht von der Entdeckung, die er selber machte. Daran hatte ich niemals gedacht. Ich kam herein, ohne zu wissen weshalb ... Augustine würde lachen, wenn ich ihr es sagte ... Mein Gott! wenn man zu heiraten gesonnen ist, denkt man nicht an die Dummheiten.

      Wenn er redseliger wurde, sprach er immer nur von dem Metzgerladen, den er mit Augustine in Plaisance zu eröffnen gedachte. Er schien so vollkommen sicher, sein Leben nach seinem Willen einzurichten, daß Florent schließlich vor ihm eine gewisse Achtung empfand, in die sich eine Gereiztheit mengte. Alles in allem war der Bursche sehr vernünftig, so dumm er auch schien; er ging gerade auf ein Ziel los und mußte es sicherlich ohne jede Aufregung, in vollkommener Zufriedenheit erreichen. An solchen Abenden konnte Florent nicht wieder an die Arbeit gehen; er legte sich mißvergnügt zu Bette und fand seine Ruhe erst wieder, wenn er dachte: »Dieser August ist doch nur ein dummes Rind!«

      Jeden Monat einmal ging er nach Clamart, um Herrn Verlaque zu besuchen. Dies war für ihn fast eine Freude. Der arme Mann schleppte sich fort zur großen Verwunderung Gavards, der ihm nicht sechs Monate gegeben hatte. Bei jedem Besuche Florents sagte ihm der Kranke, daß er sich besser befinde und seine Arbeit wieder aufnehmen wolle. Doch die Tage vergingen, und er ward wieder rückfällig. Florent setzte sich an sein Bett, plauderte mit ihm vom Fischmarkte und suchte ihn ein wenig zu erheitern. Er ließ auf dem Nachtkästchen die fünfzig Franken zurück, die er dem von ihm vertretenen Inspektor überließ; obgleich dies eine abgemachte Sache war, erzürnte sich Verlaque doch jedesmal und wollte das Geld nicht annehmen. Dann sprach man von etwas anderem und das Geld blieb auf dem Nachtkästchen. Wenn Florent fortging, gab Frau Verlaque ihm das Geleite bis zum Haustor. Sie war klein, weichlich und sehr weinerlich. Sie sprach immer von den Ausgaben, die die Krankheit ihres Gatten verursachte, von der Huhnsuppe, von den Braten, vom Rotwein, von dem Arzte und dem Apotheker. Diese Klagen waren Florent sehr lästig. Die ersten Male begriff er ihren Zweck nicht. Aber als die arme Frau unter fortwährendem Schluchzen erwähnte, wie glücklich sie ehedem mit den achtzehnhundert Franken gewesen, die ihr Mann als Gehalt bezogen, bot Florent in schüchterner Weise ihr an, ihr im geheimen etwas zu geben, ohne daß ihr Mann es wisse. Sie weigerte sich anfangs, dann versicherte sie ohne jeden Übergang, daß fünfzig Franken ihr genügen würden. Allein, im Laufe des Monats schrieb sie wiederholt an ihn, den sie »ihren Retter« nannte; sie verfügte über eine feine Schrift, über leichte und untertänige Redensarten, womit sie drei Seiten füllte, um zehn Franken zu verlangen; so daß schließlich die hundertundfünfzig Franken des Beamten ganz in die Hände des Ehepaars Verlaque wanderten. Der Mann wußte es gewiß nicht; die Frau aber küßte ihm die Hände. Diese gute Tat war seine große Freude; er verhehlte sie wie ein Vergnügen, das er als Egoist sich im geheimen gönnte.

      Dieser verteufelte Verlaque macht sich über Sie lustig, sagte Gavard manchmal; er hegt sich und pflegt sich, weil er von Ihnen eine Rente hat.

      Schließlich antwortete ihm Florent eines Tages:

      Es ist abgemacht zwischen uns; ich überlasse ihm nur fünfundzwanzig Franken.

      Übrigens hatte Florent keinerlei Bedürfnis. Bei den Quenus hatte er nach wie vor Wohnung und Verpflegung. Die wenigen Franken, die ihm übrigblieben, genügten für seine Erfrischung, die er am Abend bei Herrn Lebigre nahm. Allmählich hatte sein Leben sich geregelt wie eine Uhr: er arbeitete auf seiner Stube, gab zweimal wöchentlich von acht bis neun Uhr abends dem Knaben Feinchen Unterricht, schenkte einen Abend der schönen Lisa, um sie nicht zu verletzen, und verbrachte den Rest seiner Zeit in dem Glasverschlag in Gesellschaft Gavards und seiner Freunde.

      Zu den Méhudin kam er mit seiner etwas steifen Lehrersanftmut. Die alte Behausung gefiel ihm. Unten schritt er durch die faden Gerüche der trockenen Gemüse; in einem kleinen Hofe standen Kessel voll Spinat und Schüsseln voll Sauerampfer zum Auskühlen. Dann stieg er die Wendeltreppe hinan, deren feuchte, abgetretene Stufen in beängstigender Weise überhingen. Die Méhudin bewohnten den ganzen zweiten Stock. Die Alte hatte nicht wegziehen wollen, als der Wohlstand gekommen war, trotz der Bitten ihrer beiden Töchter, die lieber ein neues Haus in einer breiten Straße bewohnt hätten. Die Alte war eigensinnig; sie habe da gelebt und wolle da sterben, sagte sie. Sie überließ die Stuben ihren Töchtern und begnügte sich mit einer dunklen Kammer. Die schöne Normännin hatte kraft des Rechtes der älteren Schwester sich der nach der Straße gelegenen Stube bemächtigt; es war die große, die gute Stube. Claire war darüber dermaßen verdrossen, daß sie es ablehnte, die benachbarte Stube, deren Fenster auf den Hof ging, zu beziehen; sie zog es vor, in einer Art Dachstube zu schlafen, die auf der anderen Seite des Flurs lag und die sie nicht einmal mit Kalk tünchen ließ. Sie hatte ihren eigenen Schlüssel und war frei; bei dem geringsten Verdrusse schloß sie sich daselbst ein.

      Wenn Florent kam, waren die Méhudin mit ihrer Mahlzeit gewöhnlich zu Ende. Feinchen sprang ihm an den Hals. Er saß einige Augenblicke im Gespräch mit dem Kinde. Nachdem die wachsleinene Tischdecke abgetrocknet war, begann an einem Ende des Tisches die Unterrichtsstunde. Die schöne Normännin nahm ihn gut auf. Sie strickte oder besserte Linnenzeug aus, rückte ihren Sessel näher, um bei derselben Lampe zu arbeiten; oft ließ sie die Nadel ruhen, um dem Unterricht zu lauschen, der sie überraschte. Sie hatte bald große Achtung für den gelehrten Mann, der sanft schien wie eine Frau, wenn er mit dem Kinde sprach und der mit engelgleicher Geduld die nämlichen Dinge wiederholte. Sie fand


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