Ius Publicum Europaeum. Robert Thomas
Читать онлайн книгу.und eine Klage, in denen auch eine Prüfung der Zweckmäßigkeit stattfindet, nicht mehr vorsieht, wenn eine von dieser Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht besteht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Gerichte wie die Verwaltungsgerichte die Zweckmäßigkeit von Ausweisungsmaßnahmen überprüfen können.“
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Die Folge daraus ist für Deutschland, dass die Verwaltungsgerichte – die selbst aus Gründen der Gewalten- und Funktionenteilung keine Zweckmäßigkeitsprüfung anstellen können – in jedem Fall, in dem kein Widerspruchsverfahren stattgefunden hat, die Verwaltung jedenfalls zur Durchführung eines Widerspruchsverfahrens mit einer erneuten Zweckmäßigkeitsprüfung zu verurteilen hätten.[326] In der Folge hat sich die Rechtslage durch Ablösung der Richtlinie 64/221 durch Art. 31 der Unionsbürgerrichtlinie geändert, weil dieser keine Einschaltung einer „anderen Stelle“ im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221 vorschreibt. Danach bleibt es für Unionsbürger bei der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens.[327]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 3. Vorläufiger Rechtsschutz
3. Vorläufiger Rechtsschutz
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Die EuGH-Entscheidungen in den Rs. Tafelwein, Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Atlanta[328] haben die Überlagerung des nationalen Verwaltungsprozessrechts, insbesondere im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes, durch das europäische Recht besonders deutlich gemacht[329] und einmal mehr die Frage nach der kompetenziellen Dimension aufgeworfen.[330]
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Die VwGO bietet in den §§ 80 Abs. 5, 80a, 47 Abs. 6 und 123 umfassende Möglichkeiten zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Die den mitgliedstaatlichen Rechtssystemen ansonsten fremde Suspensionsautomatik[331] des § 80 Abs. 1 VwGO kann dabei den Anwendungsvorrang des Unionsrechts ins Leere laufen lassen.[332] Das Effektivitätsprinzip betrifft aber nicht die Ausgestaltung des deutschen Prozessrechts, sondern dessen Anwendung. So darf das deutsche Recht – trotz Effektivitätsgebot – einen Suspensiveffekt vorsehen, obwohl eine aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen auch die Anwendung von Unionsrecht (vorläufig) hemmen kann. Das Effektivitätsgebot wird aber wirksam, wenn sich die Frage stellt, ob und wann eine solche Hemmung im Einzelfall konkret eintritt.[333]
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Die typische Situation betrifft den – zunehmend häufigeren[334] – Fall, dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage durch Gesetz oder durch Bescheid ausgeschlossen ist und ein Betroffener nach § 80 Abs. 5 VwGO die gerichtliche Wiederherstellung des Suspensiveffekts beantragt, weil er einem Verwaltungsakt widersprochen hat, der auf Unionsrecht beruht.
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Hierzu hat der EuGH 1991 in der Rs. Zuckerfabrik Süderdithmarschen[335] Grundsätze formuliert, die für Anträge nach § 123 VwGO entsprechend gelten.[336] In der Sache gibt der EuGH den nationalen Gerichten die Kriterien vor, nach denen er selbst über vergleichbare Eilrechtsschutzmaßnahmen entscheidet. Demnach darf dem Antrag nur stattgegeben werden, wenn dem Betroffenen unter angemessener Berücksichtigung des Unionsinteresses ein schwerer irreparabler Schaden droht, wenn das Gericht erhebliche Zweifel an der einschlägigen europarechtlichen Regelung hat und wenn es zu diesen Zweifeln eine Vorlage an den EuGH richtet.[337]
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Die Kritik an dieser Rechtsprechung richtet sich auf ein angebliches Minus beim Individualrechtsschutz zugunsten der einheitlichen Durchsetzung des Unionsrechts.[338] Demgegenüber ist zu würdigen, dass der EuGH hier ausnahmsweise – wenn auch nur zeitweise – die Effektivität des Europarechts hintanstellt und diese Entscheidung dezentralisiert und – ein großer Vertrauensvorschuss – den nationalen Gerichten überlässt, wenn auch nach den Kriterien des EuGH.
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Von dieser Konstellation, in der es letztlich um die Abwehr von Anforderungen des Unionsrechts geht, unterscheidet sich die Konstellation, in der Regelungen des vorläufigen Rechtsschutzes der Durchsetzung des Unionsrechts dienen; dies ist aus europarechtlicher Perspektive unproblematisch.[339]
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Daneben kann es noch eine Konstellation geben, in der der Sofortvollzug eines Verwaltungsaktes, der auf Unionsrecht beruht, im Interesse der Union zwingend geboten ist. Dieser Fall ist in § 80 Abs. 2 VwGO nicht ausdrücklich aufgeführt, insbesondere liegt kein durch Bundesgesetz vorgeschriebener Fall vor. Um dem Effektivitätsgebot zu genügen, bleibt nur, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO dahingehend unionsrechtkonform auszulegen, dass die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes mit Blick auf die Anforderungen des Unionsrechts im öffentlichen Interesse liegt und von den deutschen Behörden entsprechend anzuordnen ist.[340]
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Denkbar ist, dass die Behörde unter Rückgriff auf die Tafelwein-Konstellation den Sofortvollzug eines europarechtlich veranlassten Verwaltungsaktes anordnet, der Einzelne dagegen unter Bezug auf die Süderdithmarschen-Rechtsprechung wiederum Eilrechtsschutz begehrt. Das nationale Verwaltungsprozessrecht fungiert dann nur noch als Andockstelle für das Europarecht.
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 4. Klagebefugnis und Zugang zum Gericht
a) Überlagerung mitgliedstaatlicher Konzepte durch europarechtliche Systementscheidungen
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Der Überlagerungsaspekt ist am Beispiel der Einführung von Verbandsklageelementen in das deutsche Verwaltungsprozessrecht besonders intensiv diskutiert worden.[341]
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Nach § 42 Abs. 2 VwGO setzt die Klagebefugnis die Behauptung der Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts voraus. Mithin muss sich der Kläger nach der Schutznormtheorie auf eine Rechtsnorm berufen können, die nicht nur öffentlichen, sondern – zumindest auch – Individualinteressen dienen soll. Für die deutschen Verwaltungsgerichte wird beschrieben, wie noch in den 1990er-Jahren die Anforderungen des Effektivitätsgebots ausgeblendet und die Schutznormtheorie auch auf gemeinschaftsrechtlich begründetes Recht unbesehen angewandt wurde.[342] Dem steht in jüngerer Zeit eine stärkere Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben gegenüber, wenn auch nicht ohne Einschränkungen.[343] Dem BVerwG wird eine sorgfältige und zutreffende Würdigung unionsrechtlicher Vorgaben attestiert.[344]
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Jedenfalls ist in den dem deutschen Verwaltungsprozessrecht zu Grunde liegenden subjektiven Rechtsschutz durch Entwicklungen auf der internationalen und europäischen Ebene Bewegung gekommen.
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Aus dem Europarecht können sich individuelle Rechte teils direkt als auch teils indirekt durch Richtlinien ergeben, ohne dass hierbei die deutsche Schutznormtheorie zur Anwendung kommt:[345] Da es sich bei dem Unionsrecht um autonomes Recht handelt, ergibt sich nämlich aus ihm selbst, ob der Einzelne aus einer Norm Rechte herleiten kann.[346] Ergeben sich Rechte des Einzelnen unmittelbar aus unionsrechtlichen Bestimmungen, so wirkt deren Auslegung durch den EuGH objektivierend auf die Klagebefugnis und den Rechtswidrigkeitszusammenhang im deutschen Verwaltungsprozess ein.[347]
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In diesem Kontext sind auch verfahrensunabhängige Akteneinsichtsrechte nach den Informationsfreiheitsgesetzen des Bundes[348]