Ius Publicum Europaeum. Robert Thomas
Читать онлайн книгу.primär der Durchsetzung privater Interessen im Sinne der Schutznormtheorie.
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Den Ausgangspunkt für eine jüngere Entwicklung in Richtung einer teilweisen Objektivierung des deutschen Verwaltungsprozessrechts bildet die Aarhus-Konvention als völkerrechtliches Abkommen über internationale Standards im Umweltschutzrecht.[349] Parteien dieses Abkommens sind sowohl die Mitgliedstaaten als auch die EU. Ziel der Aarhus-Konvention ist ein verbesserter allgemeiner Zugang zu gerichtlichen Verfahren, beispielsweise auch für Umweltverbände, um Verletzungen des Umweltrechts beanstanden zu können.[350] Auf Ebene der EU wurde die Aarhus-Konvention u.a. mit der Richtlinie 2003/35/EG und durch Änderungen der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG umgesetzt. Deutschland setzte diese Richtlinie wiederum im UmwRG a.F. in nationales Recht um. Danach müssen Umweltverbände in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren zwar nicht die Verletzung eigener Rechte geltend machen, jedoch müssen sie sich auf Rechte berufen, die Individualrechte schützen.[351]
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Diese „schutznormakzessorische Umweltverbandsklage“[352] nach § 2 UmwRG a.F. wurde von zahlreichen Stimmen als unionsrechtswidrig beanstandet, da damit sowohl gegen Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention als auch Art. 10a der Richtlinie 85/337/EWG und Art. 15a Abs. 1 der Richtlinie 96/61/EG verstoßen werde.[353] In einem vom Umweltverband BUND initiierten Rechtsstreit um die Errichtung eines Steinkohlekraftwerks in NRW legte das OVG Münster dem EuGH Fragen nach der Reichweite des Zugangs von Umweltverbänden nach der Richtlinie 85/337/EWG vor. Der EuGH weitete darauf mit dem Trianel-Urteil 2011 die Klagebefugnis von Umweltverbänden im Sinne eines möglichst effektiven Rechtsschutzes aus. Im Kern sprach der EuGH Umweltverbänden das Recht zu, einen Verstoß gegen Umweltschutzrechte, die auf Unionsrecht basieren, auch dann gerichtlich geltend machen zu können, wenn dieses Umweltrecht nur Interessen der Allgemeinheit – und nicht auch Individualinteressen – dient.[354]
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Auf dieses Urteil hin wurde Anfang 2013 § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG geändert. Umweltverbände können nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich Rechtsbehelfe einlegen, ohne eine Verletzung in eigenen Rechten behaupten zu müssen, wenn sie geltend machen, dass eine Entscheidung im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung Rechtsvorschriften widerspricht, die dem Umweltschutz dienen und für die Entscheidung von Bedeutung sein können.[355]
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Neben diesen auf das Trianel-Urteil des EuGH zurückgehenden Änderungen hin zur Statuierung eines objektiven Rechtsschutzes im deutschen Verwaltungsprozessrecht durch Änderung des UmwRG, hat die Aarhus-Konvention in Verbindung mit dem sog. Braunbären-Urteil des EuGH[356] aber auch zu einer Neuinterpretation des § 42 Abs. 2 VwGO geführt. So hat das BVerwG in einem Urteil vom 5. September 2013 das Klagerecht von Umweltverbänden erweitert, indem es den Begriff des subjektiven Rechts in § 42 Abs. 2 VwGO umfassender ausgelegt hat.[357] Konsequenz dieses Urteils ist, dass Umweltverbände die Befugnis haben, mit einer Klage die Änderung eines Luftreinhalteplans zu erzwingen.[358]
b) Kompensation europarechtlicher Individualrechtsschutzdefizite
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Der Individualrechtsschutz gegen Maßnahmen der Unionsorgane durch den EuGH ist auf europäischer Ebene vergleichsweise schmal ausgestaltet. Er richtet sich nach Art. 263 Abs. 4 AEUV, der nach der sog. Plaumann-Formel[359] eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit durch einen Unionsakt erfordert. Besonders umstritten ist dabei das Kriterium der individuellen Betroffenheit.[360]
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Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die Vorschrift ergänzt um eine Variante, die nach dem Vorliegen eines Rechtsakts mit Verordnungscharakter fragt.[361] Es bleibt aber für Rechtsakte, die keinen Verordnungscharakter aufweisen, unter bestimmten Umständen eine Rechtsschutzlücke auf Unionsebene.[362]
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Die Mitgliedstaaten sind gem. Art. 47 GRCh und Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV verpflichtet, in einem solchen Fall wirksame dezentrale Rechtschutzinstrumente zur Überprüfung von nicht direkt vor der Unionsgerichtsbarkeit angreifbaren Rechtsakten der Union zur Verfügung zu stellen.[363] Es erscheint dann höchst zweifelhaft, ob es einem Kläger zuzumuten ist, einen Normverstoß zu begehen, um über die darauf bezogene Reaktion der Verwaltung ein nationales Gerichtsverfahren zu ermöglichen, das dann über eine Vorlage nach Art. 267 AEUV zum EuGH führen kann.[364]
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Vorzugswürdig ist der in Deutschland für solche Konstellationen gangbar gemachte Weg, über die Feststellungsklage nach § 43 VwGO die nationalen Gerichte und dann gegebenenfalls im Wege des Vorlageverfahrens den EuGH zu befassen.[365] Aus der europarechtlichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame Rechtsschutzmöglichkeiten zu gewährleisten, ergibt sich eine europarechtliche Überformung der Zulässigkeitsvoraussetzungen von Feststellungsklagen nach § 43 VwGO.[366] Das Vorliegen eines berechtigten Interesses an der baldigen Feststellung ist entsprechend im Sinne einer Rechtswegermöglichung zur Kompensation europäischer Rechtsweglücken auszulegen.
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 5. Kontrolldichte
a) Allgemeines
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Das Primärrecht macht keine expliziten Vorgaben zur von den nationalen Gerichten verlangten Kontrolldichte. Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung erkennen lassen, dass er durchaus bereit ist, exekutive Beurteilungsspielräume und eine entsprechende Reduzierung der richterlichen Prüfungsbefugnis anzuerkennen.[367] Hier spielt der Vergleich mit der eigenen Kontrollpraxis eine Rolle, woraus sich die Bereitschaft erklärt, auch auf nationaler Ebene die richterliche Kontrolle komplexer Beurteilungen auf Sachverhalt, Verfahren und offensichtliche Bewertungsfehler zu begrenzen.[368] Auf eine reine Willkürkontrolle darf die gerichtliche Kontrolle dabei indessen nicht beschränkt werden.[369] Es wird jedenfalls von deutschen Verwaltungsgerichten in Verfahren mit Unionsrechtsbezug keine weitergehende Kontrolle gefordert, als der EuGH sie selbst vornimmt.[370]
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Allerdings lässt sich fragen, ob nicht die Kontrolldichtekonzepte deutscher Verwaltungsgerichte und des EuGH sich grundsätzlich unterscheiden.[371] So wird beobachtet, dass Unionsgerichte sich nicht strikt an bestimmte dogmatische Grundformen binden, insbesondere bildet die traditionelle deutsche Unterscheidung zwischen unbestimmten Gesetzesbegriffen und Ermessen keine Grundlinie ihrer Rechtsprechung, Ermessen werde vielmehr als eine die Tatbestands- und die Rechtsfolgenseite einer Norm umgreifende Entscheidungskompetenz der Verwaltung verstanden.[372] Hier sind auch Übersetzungsunschärfen zu beachten: So wird in EuGH-Entscheidungen beispielsweise in der französischen Fassung[373] pouvoir d’appréciation verwendet, was für die deutsche Fassung mit Ermessensspielraum übersetzt wird.[374]
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Verwaltungsentscheidungen, die es mit komplexen wirtschaftlichen Sachverhalten zu tun haben, unterfallen danach nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig nur einer reduzierten gerichtlichen Überprüfung durch die Unionsgerichte;[375] dies betrifft den Bereich der Landwirtschaft, des Sozialwesens, des Handels, des Verkehrs und der Umweltpolitik.[376]
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In Deutschland unterliegen Verwaltungsentscheidungen dagegen grundsätzlich einer vollen Überprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, weil die maßgebliche Kontrolldichte durch das Gebot effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG geprägt wird.[377]
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Insgesamt wird aber durch das Unionsrecht die Kontrolldichte der deutschen