Ius Publicum Europaeum. Robert Thomas
Читать онлайн книгу.in seiner Rechtsprechung der Verwaltung der Gemeinschaft einen weiterreichenden Beurteilungsspielraum einräumt, gilt das Prinzip der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten.[379] Das Unionsrecht verlangt also keine so weitgehende Kontrolldichte wie das deutsche Recht, verbietet diese aber auch nicht.[380] Überhaupt ist eine unionsweit einheitliche gerichtliche Kontrolldichte nicht geboten, weil Unterschiede in der Kontrolldichte innerhalb des Rahmens bleiben dürften, der vom Äquivalenz- und Effektivitätsgebot gezogen wird.[381]
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Immerhin wird dem Europarecht das Potenzial zugemessen, der deutschen Diskussion um die Reichweite der Justiziabilität von Verwaltungshandeln[382] befreiende Impulse zu geben.[383]
b) Subjektiver Rechtswidrigkeitszusammenhang
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Nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO erfordert eine erfolgreiche Anfechtungsklage (Begründetheit) nicht nur die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes, der Kläger muss zudem in eigenen Rechten verletzt sein (subjektiver Rechtswidrigkeitszusammenhang). Von diesem Erfordernis haben die deutschen Verwaltungsgerichte in europarechtlichen Konstellationen nicht absehen wollen, selbst wenn das Europarecht in der UVP-Richtlinie als (lediglich) objektive Kontrolle des Verwaltungshandelns ausgestaltet ist.[384] Die Europäische Kommission hat daraufhin im März 2014 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, weil die Bestimmungen der UVP-Richtlinie grundsätzlich als keine subjektiven Rechte verleihend angesehen und damit deren gerichtliche Geltendmachung durch Einzelpersonen weitgehend ausgeschlossen werden.[385] In dem Vertragsverletzungsverfahren ging es auch um Verfahrensfehlerfolgen.[386] Der EuGH hat indessen in seinem Urteil vom Oktober 2015 entgegen der Auffassung der Kommission und des Generalanwalts den von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO geforderten Rechtswidrigkeitszusammenhang bei Individualklagen für mit dem Unionsrecht vereinbar gehalten.[387] Zur Begründung führt er an, die einschlägigen Richtlinien würden es den Mitgliedstaaten überlassen, was als Rechtsverletzung gelten soll. Hingegen hat der EuGH die Präklusionsregeln in § 2 Abs. 3 UmwRG und § 73 Abs. 4 S. 3 VwVfG für unionsrechtswidrig angesehen.[388] Das BVerwG ist dem Urteil des EuGH gefolgt.[389] Der Gesetzgeber hat diese unionsrechtswidrigen Vorschriften inzwischen aufgehoben.[390]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 6. Aufstellung im transnationalen Rechtsschutz gegen transnationale Verwaltungsakte
6. Aufstellung im transnationalen Rechtsschutz gegen
transnationale Verwaltungsakte
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Der Begriff „transnationaler Verwaltungsakt“ geht zurück auf eine 1993 bei Eberhard Schmidt-Aßmann[391] entstandene Dissertation von Volker Neßler[392] und ist seitdem Gegenstand intensiven wissenschaftlichen Interesses gewesen.[393] Ausgangspunkt ist die Beobachtung eines bestimmten europarechtlichen Wirkmechanismus: Im Bereich der zweistufigen Rechtsetzung vermittels EU-Richtlinie verpflichten nicht selten Richtlinien die nationalen Behörden dazu, Verwaltungsentscheidungen anderer Mitgliedstaaten wie eigene anzuerkennen.
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„Diese nationalen Verwaltungsakte haben dann – als Folge dieses Anerkennungsprinzips – nicht mehr nur nationale, sondern über die eigenen Staatsgrenzen hinausreichende, also transnationale Wirkungen.“[394] Mit dem transnationalen Verwaltungsakt ist also zunächst einmal das Phänomen eines in einem Mitgliedstaat ergangenen Hoheitsaktes in Gestalt einer behördlichen Einzelfallentscheidung gemeint, die aufgrund von Europarecht Geltung in anderen Mitgliedstaaten beansprucht. Im europarechtlichen Kontext geht es dabei typischerweise um Zulassungen oder Genehmigungen. Bei näherer Betrachtung ergibt sich, dass der transnationale Verwaltungsakt ein Kürzel für eine aufgrund europa- oder völkerrechtlicher Anordnung grenzüberschreitend wirkende Behördenentscheidung ist. Der Verwaltungsakt des deutschen Verwaltungsrechts bleibt in seiner Konzeption und in seiner Stellung vom transnationalen Verwaltungsakt bis auf Weiteres unberührt, weil die Anwendung der bisher an den „echten“ Verwaltungsakt anknüpfenden Verfahrens- und Rechtsschutzbestimmungen nicht in Sicht ist. Die Verwaltungsgerichte haben jedenfalls eine entsprechende Konzeptualisierung nicht eingeleitet.
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 7. Kooperation mit dem EuGH
7. Kooperation mit dem EuGH
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In Frankreich ist das höchste Verwaltungsgericht, der Conseil d’État, mit dem Arrêt Cohn-Bendit vom 22. Dezember 1978[395] dem Europarecht und dem EuGH lange Zeit relativ offen und kategorisch, fast schon feindselig, entgegengetreten. Der Conseil d’État verweigerte sich dabei der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien und entzog sich mit dem Argument des nicht auslegungsbedürftigen Europarechts („acte clair“) seiner Vorlagepflicht. Die unmittelbare Anwendbarkeit von EU-Richtlinien ist in Frankreich vom Conseil d’État erst 31 Jahre später, im Jahre 2009,[396] anerkannt worden. Eine vergleichbare Abwehr des Europarechts ist in Deutschland nicht erfolgt. Der Bundesfinanzhof hat zwar für eine kurze Zeit den Versuch unternommen, die Rechtsprechung des Conseil d’État zu rezipieren.[397] Er wurde aber vom BVerfG alsbald zur Ordnung gerufen.[398]
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Die in der Gesamtbetrachtung bestehende freundliche Offenheit der deutschen Verwaltungsgerichte für die europäische Kooperation belegt die Vorlagepraxis deutscher Verwaltungsgerichte. Anders als beispielsweise skandinavische Gerichte haben die deutschen Gerichte das Vorlageverfahren zum EuGH akzeptiert. Die erste Vorlage des BVerwG datiert auf das Jahr 1970,[399] bis Ende 2016 hat das BVerwG 120 Vorlagen an den EuGH gerichtet.[400]
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Die seit den fehlgeschlagenen Ausbruchsversuchen des Bundesfinanzhofs (BFH) im Hintergrund stehende und unzählige Male auch realisierte Drohung des BVerfG, bei Nichtvorlage auf eine entsprechende Verfassungsbeschwerde hin die Fachgerichte mit Blick auf das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter zur Vorlage zu zwingen, mag hier eine Rolle spielen. Allerdings ist das BVerfG hier vereinzelt auch über das Ziel hinausgeschossen, wie der Fall Rinke[401] belegt.
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Insgesamt kann die Kooperation zwischen der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit und dem EuGH heute fast durchgehend als positiv und konstruktiv bewertet werden.[402]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 8. Horizontale Kooperation – nationale Verwaltungsgerichte als funktional dezentrale europäische Gerichte?
8. Horizontale Kooperation – nationale Verwaltungsgerichte als
funktional dezentrale europäische Gerichte?
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Der horizontalen Kooperation sind zwischen den Verwaltungsgerichten auf der formalen Ebene Grenzen gesetzt.[403] Eine grenzüberschreitende Interaktion findet nichtsdestotrotz statt. Dem regelmäßigen Austausch und der Begegnung zwischen Richtern aus Frankreich und Deutschland wird vereinzelt sogar eine Bedeutung für die Annäherung der Rechtsschutzsysteme zugeschrieben.[404]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › V. Gesamtbetrachtung
V. Gesamtbetrachtung
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