Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab
Читать онлайн книгу.Verderben geboren!«
Die Mutter tat, wie der Sohn sie angewiesen. Sie stieg in die duftende Kammer hinunter, wo die
schönsten Seidengewande verwahrt lagen, die Paris selbst aus Sidon mitgebracht hatte, als er auf
Umwegen mit Helena nach der Heimat schiffte. Eines davon, das größte, schönste, mit den
herrlichsten Bildern durchwirkte, das zuunterst von allen lag, suchte sie hervor und wandelte nun,
von der Schar der edelsten Weiber begleitet, nach der Burg, zu Athenes Tempel. Hier öffnete ihnen
Antenors Gattin Theano, die trojanische Priesterin der Pallas, das Haus der Göttin. Die Frauen reihten
sich um das Bild Athenes und huben mit Klagetönen die Hände zu der Göttin empor. Dann nahm
Theano das Gewand aus den Händen der Königin, legte es auf die Knie des Bildes und flehte zu der
Tochter des Zeus: »Pallas Athene, Beschirmerin der Städte, erhabene, machtvolle Göttin, brich du
dem Diomedes den Speer, laß ihn selbst, auf sein Angesicht gestürzt, vor unsern Toren sich wälzen;
erbarme dich der Stadt, der Frauen, der stammelnden Kinder! In dieser Hoffnung weihen wir dir
zwölf untadelige Kühe.«
Aber Pallas Athene verweigerte ihnen im Herzen ihre Bitte. Hektor war inzwischen im Palaste des
Paris angekommen, der hoch auf der Burg, in der Nähe vom Königspalast und von Hektors Wohnung,
stand; denn beide Fürsten hatten von der Königswohnung abgesonderte Häuser. Er trug in der
Rechten seinen Speer, der elf Ellen lang und dessen eherne Spitze am Schaft mit einem goldenen
Ring umlegt war. Er fand den Bruder, wie er in seinem Gemache die Waffen musterte und das Horn
des Bogens glättete; seine Gemahlin Helena saß emsig unter den Weibern und leitete ihr Tagewerk.
Als Hektor jenen sah, schalt er ihn und rief. »Du tust nicht recht, so im Unmute hier zu sitzen, Bruder;
um deinetwillen schlägt sich das Volk vor der Stadt im Feldgetümmel! Du selbst aber würdest mit
jedem andern zanken, den du so saumselig zum Treffen sähest. Auf denn, ehe die Stadt unter den
Feuerbränden unseres Feindes auflodert, hilf sie verteidigen mit uns!« Paris antwortete ihm: »Du
tadelst mich nicht mit Unrecht, Bruder; doch habe ich nicht aus Unmut, sondern nur aus Gram hier in
der Untätigkeit gesessen. Nun aber hat mir meine Gattin freundlich zugeredet, in die Schlacht
hinauszugehen; so verziehe denn, bis ich meine Rüstung angezogen habe, oder geh: ich hoffe dir bald
nachzufolgen.« Hektor schwieg darauf, aber Helena redete ihn mit Worten der Beschämung an: »O
Schwager, ich bin ein schnödes, unheilstiftendes Weib! Hätte mich doch die Meereswoge
verschlungen, ehe ich mit Paris hier ans Land stieg! Nun das Übel aber einmal verhängt worden: wäre
ich doch wenigstens nur die Genossin eines besseren Mannes, der die Schmach und die vielen
Vorwürfe, die er sich zuzieht, auch empfände; so aber hat er kein Herz im Leibe und wird keines
haben, und die Frucht seiner Feigheit wird nicht ausbleiben. Aber du, Hektor, komm doch herein und
ruhe von der Arbeit, die wegen meiner, des schändlichen Weibes, die wegen der Freveltat meines
Gatten doch zumeist auf deinen Schultern lastet!« »Nein, Helena«, sprach Hektor, »heiß mich nicht
so freundlich sitzen, ich darf wahrlich nicht: mein Herz drängt mich, den Trojanern zu helfen.
Muntere du nur diesen Menschen da auf, und er selbst spute sich, daß er mich bald innerhalb der
Stadtmauern erreiche. Ich will zuvor noch in meine eigene Wohnung gehen und nach Weib, Söhnlein
und Gesinde schauen.« So sprach Hektor und enteilte. Aber er fand die Gattin nicht zu Hause. »Als
sie hörte«, sprach zu ihm die Schaffnerin, »daß die Trojaner Not leiden und der Sieg sich zu den
Griechen neige, verließ sie die Wohnung, wie außer sich, um einen der Stadttürme zu besteigen, und
die Wärterin mußte ihr das Kind nachtragen.«
Schnell legte Hektor den Weg durch die Straßen Trojas jetzt wieder zurück. Als er das Skäische Tor
erreicht, kam seine Gemahlin Andromache, die blühende Tochter des kilikischen Eëtion von Theben,
eilenden Laufes gegen ihn her; die Dienerin, ihr folgend, trug das unmündige Knäblein Astyanax,
schön wie ein Gestirn, an der Brust. Mit stillem Lächeln betrachtete der Vater den Knaben,
Andromache aber trat ihm unter Tränen zur Seite, drückte ihm zärtlich die Hand und sprach:
»Entsetzlicher Mann! gewiß tötet dich noch dein Mut, und du erbarmst dich weder deines
stammelnden Kindes noch deines unglückseligen Weibes, das du bald zur Witwe machen wirst.
Werde ich deiner beraubt, so wäre es das beste, ich sänke in den Boden hinab. Den Vater hat mir
Achill getötet, meine Mutter hat der Bogen der Artemis erlegt, meine sieben Brüder hat auch der
Pelide umgebracht, ohne dich habe ich keinen Trost, Hektor: du bist mir Vater und Mutter und
Bruder. Darum erbarme dich, bleib hier auf dem Turm; mach dein Kind nicht zur Waise, dein Weib
nicht zur Witwe! Das Heer stelle dort an den Feigenhügel: dort steht die Mauer dem Angriffe frei und
ist am leichtesten zu ersteigen, dorthin haben die tapfersten Krieger, die Ajax beide, Idomeneus, die
Atriden und Diomedes schon dreimal den Sturm gelenkt, sei es, daß ein Seher es ihnen offenbarte,
sei's, daß das eigene Herz dieselben trieb!«
Liebreich antwortete Hektor seiner Gemahlin: »Auch mich härmt alles dieses, Geliebteste; aber ich
müßte mich vor Trojas Männern und Frauen schämen, wenn ich, erschlafft wie ein Feiger, hier aus
der Ferne zuschaute. Auch mein eigner Mut erlaubt es mir nicht, er hat mich immer gelehrt, im
Vorderkampfe zu streiten; zwar das Herz weissagt es mir: der Tag wird kommen, wo die heilige Troja
hinsinkt und Priamos und all sein Volk; aber weder der Trojaner Leid noch der eigenen Eltern und der
leiblichen Brüder, wenn sie dann unter dem Schwert der Griechen fallen, geht mir so zu Herzen wie
das deine, wenn dich, die Weinende, ein Danaer in die Knechtschaft führen wird und du dann zu
Argos am Webestuhl sitzest oder Wasser trägst, vom harten Zwang belastet, und dann wohl ein
Mann, dich in Tränen schauend, spricht: ›Das war Hektors Weib!‹ Decke mich der Grabhügel, ehe ich
von deinem Geschrei und deiner Entführung hören muß!« So sprach er und streckte die Arme nach
seinem Knäbchen aus; aber das Kind schmiegte sich schreiend an den Busen der Amme, von der
Zärtlichkeit des Vaters erschreckt und vor dem ehernen Helm und dem fürchterlich flatternden
Roßschweif erbangend. Der Vater schaute das Kind und die Mutter lächelnd an, nahm sich schnell
den schimmernden Helm vom Haupte, legte ihn zu Boden, küßte sein geliebtes Söhnchen und wiegte
es auf dem Arm. Dann flehte er zum Himmel empor: »Zeus und ihr Götter! laßt dies mein Knäblein
werden wie mich selbst, voranstrebend dem Volk der Trojaner; laßt es mächtig werden in Troja und