Leben unter fremder Flagge. Thomas GAST

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Leben unter fremder Flagge - Thomas GAST


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Seesack mussten wir vom Bahnhof bis zum Quartier tragen. Der Weg führte durch die halbe Innenstadt bis hin zur Rue du Général Lapasset. Die alte „Caserne Lapasset“ existierte bereits im Jahr 1879. Während des Zweiten Weltkriegs diente sie als Militärhospital. Das war, bevor sie von den deutschen Truppen besetzt wurde. Aus Korsika kommend hielten am 23. November 1976 die 1. und 2. Kompanie des Groupement d’instruction de la Légion étrangère (GILE) ihren Einzug. Bis 1991 sollte dieser Ort die „Männerschmiede“ der Legion bleiben. Lapasset (nach dem General Ferdinand Lapasset) war ebenso überschaubar von der Fläche des Kasernengeländes her wie von der Stärke der dort stationierten Kräfte. Eine Kompanie für die Ausbildung der Kader (CIC); drei Ausbildungskompanien (CEV) und eine Stabs- und Versorgungskompanie (CCSR). Der Kompaniechef der „Ersten“, in die ich versetzt wurde, war ein vierschrötiger deutscher Hauptmann. Er sah aus, wie man sich einen Vorgesetzten der Fremdenlegion vorstellt: Mittelgroß, kompakt, energisches Kinn! Mein erstes Fazit: Ein Mann, mit dem man sich unter keinen Umständen anlegt! Später, als ich ihn etwas besser kannte, wurde ich in dieser Ansicht noch bestärkt, doch ich erfuhr auch, dass hinter seiner harten Schale eine durchaus umgängliche Seele steckte. Hessler, um ihn beim Namen zu nennen, war schon zu Lebzeiten eine Figur in der Legion, hatte er es doch vom simplen Legionär bis zum Offizier, zum Hauptmann, gebracht. Er war aber zu dieser Zeit bereits am Ende seiner Karriere angelangt und nahm schon kurz darauf seinen wohlverdienten Abschied (Rente). Ich höre seine Stimme heute noch klar und deutlich, als er einmal ironisch und vielleicht leicht verbittert auf Deutsch zu mir meinte: „Die Legion kann einen wie mich nicht in Rente schicken, denn wenn sie mich zur Tür rausschmeißen, klettere ich vom Fenster wieder rein, und das so lange, bis sie mich in Ruhe lassen und ich bleiben darf!“ Capitaine Hessler kam ein paar Jahre später in Kuwait beim Entschärfen einer Mine als Zivilist ums Leben. Bei Eignung konnte jeder „Fremde“ in der Legion Offizier werden. Einige schafften es bis hin zum Dienstgrad eines Commandant oder Lieutenant-colonel. Der Putschversuch des 1. REP im April 1961 in Algier (Algerien) war mit einer der Auslöser dafür, dass man jedoch sagte: Jeder Offizier, der künftig eine Kampfeinheit unter seinem Befehl hat, muss „Français de Souche“ sein, Franzose von Geburt. Ich nehme an, dass hinter dieser Entscheidung politische Motive und die „französische Angst“ steckten, was nur verständlich wäre. Unsere Bleibe für die nächsten vier Monate war ein Saal, in dem 45 Betten standen, jeweils drei übereinander. Der Boden war eine Zumutung aus knarrenden Holzdielen, die Enge beängstigend. Egal wohin man sich auch drehte, immer stieß oder eckte man mit jemandem an. Die Luft in diesen Zimmern stand. Auf engstem Raum waren Männer von über fünfzehn Nationen zusammengepfercht. Männer, die sich nie vorher gesehen, die keine gemeinsame Sprache hatten. Chinesen, Engländer und Japaner, Afrikaner, Skandinavier, Russen und Peruaner … und, und, und! Und Deutsche. Männer verschiedener Rassen, verschiedener Religionen, junge Spunde, alte, einsame Wölfe und Schafe, die sich nur in der Menge behaupten konnten. Männer aus verschieden sozialen Schichten. Ehemalige Direktoren und Straßenfeger, leitende Angestellte und Vagabunden, Bordellbesitzer und gescheiterte Theologen, Metzger und Anwälte, Ex-Soldaten und solche, die nicht wussten, dass eine Waffe töten konnte. Wir hatten auch einen Offizier, einen einstigen Piloten einer Mig-24, unter uns. Jeder von uns hatte seinen Grund, hier zu sein. Mal war dieser Grund düster, mal extravagant, immer aber schien er schwerwiegend. Und nun sollten wir uns vier Monate lang alles teilen, durch Schweiß und Blut eine Einheit werden, im Guten wie im Bösen? Hier in diesem Saal bildeten sich bereits in den ersten Tagen kleine Gruppen: in einer Ecke die Rumänen, eine Mafia in jeder Hinsicht, in der anderen Ecke die Engländer, die schon auf den Falklandinseln zusammen Tee getrunken hatten. Etwas weiter ehemalige Fallschirmjäger der französischen Armee, die unter kanadischer oder belgischer Nationalität angeheuert hatten (Gaulois: Gallier), und dazwischen einige schüchterne Asiaten und Einzelgänger wie ich. Es war ein Ort, an dem man sich vorsehen musste, das war mir sofort klar. Vor allem nachts, wenn die Ausbilder gerne mal ein Auge zudrückten und wenn mal hier und mal da die Fetzen flogen. Meine Überlegung war unkompliziert: Behaupte dich oder werde dominiert!

      »In jedem Zug hängt sich einer auf, bevor es auf die Farmen geht!« Der Engländer, der das gesagt hatte, war mir auf Anhieb sympathisch. Nachdenklich sah er zur Decke hoch, als würden dort noch einige Leichen baumeln. Ich glaubte ihm kein Wort. Diese und ähnliche Geschichten hatte ich zwar auch schon gehört, aber für mich waren es allenfalls Lügen. Dass uns eine knüppelharte Ausbildung, Druck und außergewöhnliche Schikanen erwarteten, das wussten wir alle. Ich fühlte mich aber mental robust genug, diesen notwendigen „Begleiterscheinungen“ zu begegnen. Intolerabel würde es für mich nur werden, wenn Rassismus ins Spiel käme, doch noch war dem nicht so.

      Anm. d. Verf.: Ich erwähnte anfangs, dass ich Sohn eines schwarzen Amerikaners und einer weißen Deutschen bin. Die von mir erwarteten Probleme blieben jedoch aus. Der Ehrenkodex der Legion hat Menschen wie mich und viele andere nicht nur vor Schikanen bewahrt, sondern uns alle in einer homogenen, neutralen Brüderschaft zu neuem Leben aufblühen lassen. Zumindest empfand ich das so. Vom Aussehen her nicht alle gleich, bekam doch jeder im Startblock dieselben Chancen: Das war ein starkes Gefühl! Bis heute hat sich das nicht geändert. Diese Liberalität ist eines der vielen Geheimnisse, warum die Legion so angesehen und effizient ist. Warum wohl existiert diese Institution nach fast 185 Jahren immer noch? Auch wegen dieser Toleranz! Zu Beginn hatte ich also Zweifel, vor allem hier in Castel. In solchen Augenblicken hielt ich mir mein Ziel vor Augen, und das war, so lächerlich es damals klingen mochte: Zugführer in der Fremdenlegion zu werden.

      »Thompson«, sagte der Engländer mit dem Ansatz eines Lächelns und reichte mir seine Hand. Eine Hand, die mir breit wie ein Klodeckel erschien und in der meine eigene völlig verschwand. »Wenn du Ärger hast, ruf mich. Mein Bett und mein Spind sind unterm Fenster dort.« Mehr sagte er nicht. Überhaupt war Thompson kein allzu gesprächiger Geselle. Mir fiel auf, dass die meisten einen respektvollen Bogen um ihn machten. Vielleicht wegen seiner gut verteilten hundertzehn Kilo und weil er sich, der Masse seines Körpers zum Trotz, tänzelnd leicht und sicher bewegte. Ich wurde in meinen Gedanken abgelenkt, weil ein Wirbelwind zur Tür hereinfegte, „S-2 vorm Gebäude antreten“ brüllte und augenblicklich wieder verschwand. Wir alle sahen uns gegenseitig fragend an. Drei Sekunden später steckte Mister Wirbelwind erneut den Kopf durch den Türspalt. »Schweinsgalopp, Leute. Sportzeug, kurze Hose, Turnschuhe, Seife und das Handtuch nicht vergessen.«

      So brachten wir in Erfahrung, dass wir dem zweiten Zug angehörten. Auf dem Exerzierplatz angekommen, stand schon wieder der irische Caporal, der Wirbelwind, vor uns. Er war knapp einen Kopf kleiner als ich. So ein Energiebündel hatte ich noch nie gesehen. »En position! Solange der Zug nicht vollständig angetreten ist, wird gepumpt. En bas, là-haut, en bas, là-haut, runter, rauf!« Und so ging es in einem fort. Pumpen, „les Pompes“, das hieß Liegestütze machen. Zwischendurch rannte der Caporal durch unsere Reihen, verteilte Fußtritte und schrie. »En bas, là-haut!« Als die Nachzügler endlich die Treppe heruntergestürmt kamen, lagen wir alle längst mit der Nase im Dreck. In unseren Armen war Pudding, die Moral focht ihren ersten schweren Kampf. Der Einzige, der immer noch im Takt und unbeirrbar wie eine Lokomotive Liegestütze machte, war Thompson. Er kam mir vor wie ein Dampfer, der seelenruhig seine Bahnen zog, obwohl die See um ihn herum tobte und die Wellen wütend, aber vergeblich an seinen Planken rissen. Mit den Schikanen konnte ich umgehen. Als bereits Gedienter war mir sehr bewusst, dass es ohne nicht ging. Die Fußtritte sollten vermitteln, dass hier ein gemeinsames Ziel dahintersteckt. Das Langzeitziel war, dass aus jedem von uns ein Soldat wird. Doch Soldat zu sein ist kein Ende in sich selbst, denn als solcher kann man fortschreiten, kann immer besser werden. Der Prozess wurde über all die Jahre, die ich in der Legion verbrachte, vorangetrieben, nur dass ich ihn jeweils aus einer anderen Perspektive miterleben durfte. Die Endstation war stets das Überleben! Auch die Entwicklung, der Reifeprozess als Mensch steht hinter dieser nach außen hin scheinbaren Brutalität. Als Soldat, vor allem im scharfen Einsatz, muss man agieren, reagieren, auf Zack sein und versuchen, das Gefechtsfeld als Sieger zu verlassen. Ein Fußtritt in der Ausbildung hat, wenn man es aus dieser Perspektive sieht, Jahre später so manch ein Leben gerettet. Veteranen können mich darin nur bestätigen. Es gibt Gefechtsfelder, auf denen keine Kugeln hin und her fliegen: Das gesamte Leben ist eins! Der Kandidat, den ein Fußtritt hier und da jetzt schon aus der Bahn warf, war für alle Gefechtsfelder des Lebens ungeeignet. Ich will damit nicht sagen, dass man,


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