Der Kaiser. Geoffrey Parker
Читать онлайн книгу.allerdings den größten Teil der österreichischen Erblande an seinen Bruder Ferdinand abgetreten, der 1526 auch zum Herrscher über Böhmen und einen großen Teil Ungarns wurde. Zusammen herrschten die beiden Brüder über beinahe die Hälfte Europas.
»Karl hörte sich dies mit Wohlwollen an«, fuhr Gattinara fort, »und da nun die Meinung seines ganzen Rates sich geändert hatte, entschied er die Angelegenheit«, indem er die zur Sicherung seiner Wahl notwendigen Gelder auf den Weg brachte (siehe Karte 3).60
Die Notwendigkeit, eine solche Eskalation von drohenden Katastrophen zu vermeiden, wie sie Gattinara – und vor ihm Spinelly – beschrieben hatte, sollte in der Folgezeit zu einem beständig wiederholten Grundsatz der habsburgischen Gesamtstrategie werden. Ein zweiter solcher Grundsatz, der 1518/19 ebenfalls für das Bemühen um die Kaiserwahl sprach, hielt das habsburgische Prestiges hoch – oder die »Reputation«, wie man damals meist sagte. Die Durchsetzung von Ansprüchen und Titeln, wie entlegen sie auch sein mochten, bildete einen Grundpfeiler des internationalen Beziehungssystems in der Frühen Neuzeit, und ein Herrscher, der nicht alles daransetzte, seine Ansprüche durchzusetzen – und stünden sie auf noch so wackeligen Füßen –, machte sich zum Gespött seiner Zeitgenossen. Das Haus Habsburg hatte die Kaiserwürde bereits drei Generationen lang innegehabt: Wenn Karl sie nun fahren ließ, dann gefährdete er damit nicht nur seinen eigenen Ruf, sondern auch den seiner gesamten Familie. »Nehmt Euch diese Angelegenheit zu Herzen zum Wohle unseres ganzen Hauses, so wie wir selbst es tun«, hatte Maximilian seinen Enkel einst gemahnt, und Margarete stimmte dem zu: Die Kaiserwahl eines Königs von Frankreich »wäre eine beständige Schande und Schmach« für das ganze Haus Habsburg.61
Die dramatische Erweiterung von Karls Machtsphäre beeinflusste sein Regierungshandeln in Theorie und Praxis gleichermaßen. Auf zeremonieller Ebene etwa schlug er anlässlich einer weiteren, mit aller Pracht begangenen Kapitelversammlung des Ordens vom Goldenen Vlies – diesmal in der Kathedrale von Barcelona – eine bunte Mischung von Anwärtern zu Rittern: einen Neapolitaner, zwei Aragonier und acht Kastilier. Der Orden hatte seine geografische Reichweite ausgedehnt, ganz analog zum Ausgreifen der Habsburgerdynastie. Auf der Verwaltungsebene zwang jene »hitzige und langwierige Pokerpartie« um die Macht im römisch-deutschen Reich die Amtsträger und Parteigänger in Karls diversen Herrschaftsgebieten zur Zusammenarbeit – sie waren nun ein großes Team. Wie auswärtige Gesandte in Spanien halb neidisch, halb besorgt bemerkten, gelang es den Bankiers mühelos, den zu erwartenden spanischen Steuerertrag im Voraus aufzubringen und nach Augsburg zu transferieren, wo ein effizient arbeitender Stab von Bediensteten unter der Leitung Heinrichs von Nassau und Jakob Villingers Hand in Hand zusammenarbeitete, um die Verteilung der Gelder und Gefälligkeiten zu organisieren. Inzwischen gehorchten die Statthalter der österreichischen Erblande, die Karl ja gerade erst geerbt hatte, den Anweisungen ihres abwesenden Herrn – dem sie noch nie begegnet waren – und erklärten sich bereit, »restlos alles zu verpfänden«, wenn es sein musste, »um [Karl] zu Willen zu sein«. Und in den Niederlanden saß Margarete von Österreich, stellte Kreditbriefe aus, die auf dortige Einkünfte gezogen waren, und sandte sie an Karls Agenten in Deutschland, verbunden mit der Erinnerung: »Meine Herren, uns ist bewusst, dass dies eine große und beträchtliche Summe ist, aber man darf nie vergessen, von welcher Art und Wichtigkeit die Sache ist, für die sie verwendet werden soll; und dass wir, sollten wir mangels Geld scheitern, noch Schlimmeres und sehr viel mehr erleiden werden.«62
Auch die Art, wie an Karls Hof die Geschäfte geführt wurden, blieb von derlei Prozessen der Integration und der Fokussierung auf das eine große Ziel nicht unberührt. Vor der Wahl hatten sich die ausländischen Gesandten immer wieder darüber beklagt, wie lange sie auf eine Audienz oder gar eine Entscheidung warten mussten. »Meist geht es so, dass das, was sie noch am selben Tag zu tun versprechen, auch in den sechs Tagen darauf noch ungetan bleibt«, jammerte 1518 ein englischer Gesandter in Saragossa, während sein französischer Kollege maliziös hinzufügte: »Wenn Barcelona und Valencia ihn [d. i. Karl] so lange festhalten wie diese Stadt hier, … wird er dort wohl drei Jahre verbringen.« Im Februar 1519 berichtete derselbe Gesandte dann jedoch: »Hier vergeht kein Tag, ohne dass ein Bote aus Deutschland eintrifft«, und zweifellos nahm das Briefaufkommen in den folgenden Monaten noch zu. Jedenfalls notierte der Historiker Marino Sanuto in seinem Tagebuch, dass in seiner Heimatstadt Venedig zwischen Februar und Juli beinahe 200 Dokumente eingetroffen waren, die mit der Wahl zu tun hatten – im Durchschnitt mehr als eines pro Tag! Und auch die Briefe aus Spanien, merkte er an, »handeln von nichts anderem als dem Reich«.63
Nach seiner Wahl musste Karl dann einsehen, dass »die großen und beständigen Aufgaben, die vor uns stehen und noch zunehmen, während wir uns bemühen, die Angelegenheiten unserer Königreiche, Herrschaftsgebiete und Untertanen zu ordnen und zu führen« – dass diese besagten Aufgaben es letztlich erfordern würden, grundlegende administrative Veränderungen vorzunehmen. Weil »wir nun für eine ganze Weile nicht imstande sein werden, in die Niederlande zurückzukehren, um unsere dortigen Geschäfte persönlich zu führen … mit eigenem Wissen, Willen, eigener Autorität und Macht«, erweiterte Karl insbesondere die Kompetenzen Margaretes. Als »Regentin und Statthalterin« war sie ausgestattet mit der Vollmacht, alles zu tun, »was wir selbst auch tun oder zu tun veranlassen, solange wir uns in Spanien aufhalten«, von einigen kleineren Einschränkungen abgesehen. Dazu gab Karl »unser Wort als König, dass wir billigen und für ewig wahren wollen, was unsere edle Tante getan haben wird«. Das sollte das Grundmuster für die Delegierung von Befugnissen in Karls Reich werden.64
Sechs Tage nachdem die Nachricht von Karls Wahlerfolg in Barcelona eingetroffen war, legte Gattinara ihm den Entwurf für eine umfassende Reform der Zentralregierung vor. Der Kanzler erinnerte seinen Herrn zunächst eindringlich daran, Gott Dank zu sagen und seine Mutter, den Papst und seinen Beichtvater zu ehren (und zwar in genau dieser Reihenfolge), sodann befasste er sich mit dem exilierten Infanten Ferdinand: »Ihr müsst jegliche Rechte auf Nachfolge, Erbteilung oder Apanage anerkennen, die ihm zustehen«, führte Gattinara aus. Außerdem solle Karl »ihn auf alle Eure Reisen mitnehmen und ihn unterweisen und an großen Vorhaben beteiligen«, denn dann »werdet Ihr Euch bei wichtigen Unternehmungen fester auf ihn verlassen können als auf irgendwen sonst«. Überhaupt werde Karl, warnte der Kanzler, »mit so vielen und so verschiedenen Königreichen und Provinzen – und nun auch noch mit dem Reich – womöglich schneller einen Mangel an geeigneten Männern leiden als an Geld«. Denn schließlich werde »angesichts der Zahl von wichtigen Angelegenheiten, mit denen Ihr Euch werdet auseinandersetzen müssen – im Reich angefangen, aber auch in Euren Königreichen und Herrschaften in Spanien, Österreich, Flandern und Burgund –, es Euch schlichtweg nicht möglich sein, alle nötigen Schreiben selbst zu unterzeichnen«. Deshalb solle Karl einen kleinen »Reiserat« einrichten, der ihn stets und überallhin begleiten und ihn in allen Angelegenheiten beraten sollte, die das gesamte Reich betrafen, während Routineaufgaben an die bestehenden lokalen Institutionen der einzelnen Herrschaftsgebiete delegiert werden sollten. Entscheidend war es, so Gattinara, »dringliche Angelegenheiten« von solchen zu unterscheiden, die »mit Muße erwogen und entschieden werden« konnten – keine ganz leichte Aufgabe, sondern vielmehr ein ständiges Dilemma, mit dem sich Karl und seine Nachfolger immer wieder konfrontiert sahen. Gattinara brachte zu seiner Bewältigung eine Fülle praktischer Ratschläge vor (beispielsweise diesen: »Um Eure Geschäfte zu beschleunigen und damit nicht jene warten müssen, die dringend eine Entscheidung benötigen, sollte Euer Majestät sich gleich morgens beim Aufstehen und Ankleiden drei oder vier anstehende Fragen vortragen lassen; auf diese Weise werden die Angelegenheiten sich nicht mehr auftürmen, wie sie es jetzt tun«).65
Solche Maßnahmen waren jedoch zum Scheitern verurteilt, da, wie Karl Brandi bemerkt hat, »die dynastische Vereinigung völlig verschiedener Staaten und Völker zu kaum lösbaren Schwierigkeiten führen« musste.66 Beinahe unmittelbar wurden diese Schwierigkeiten dann auch in elementaren Verwaltungsfehlern und -versäumnissen manifest. Beispielsweise unterzeichnete Karl kurz nach dem Tod Maximilians eine Anweisung an seine Gesandten, die eben um die kurfürstlichen Wahlstimmen warben. In dem Dokument fehlte jedoch ein Name, der des Herrn von Zevenbergen. Der vergessene Gesandte war zutiefst gekränkt und frustriert, denn