Vierundzwanzig Unterredungen mit den Vätern. Johannes Cassianus
Читать онлайн книгу.geistige Beschauungen zum Unsichtbaren so emporgestiegen ist, daß er auf das Himmlische und Unkörperliche gerichtet die Hülle des gebrechlichen Fleisches und des ihm anhaftenden Körpers gar nicht mehr merkt. Dann soll er auch in solche Entzückungen hingerissen werden, daß er nicht nur seine Stimmen mehr mit dem leiblichen Ohre vernimmt, und nicht durch den Anblick der vorübergehenden Menschen eingenommen wird, sondern daß er nicht einmal die dastehenden mächtigen Bäume und die größten sich darbietenden Gegenstände mit leiblichem Auge sieht. Die Glaubwürdigkeit und Kraft dieses Zustandes wird nur der fassen, der das Gesagte durch Erfahrung kennen gelernt hat, dessen Herzensaugen nemlich der Herr so von allem Gegenwärtigen abgezogen hat, daß er es nicht nur für vorübergehend, sondern für gleichsam nicht daseiend hält und es für leeren Rauch ansieht, der in Nichts sich auflöst. Wandelnd mit Gott wie Henoch und über menschliches Thun und Treiben erhaben findet man ihn nicht mehr in der Eitelkeit dieser Zeit. Daß Dieß an Jenem (Henoch) auch körperlich geschah, lesen wir so in der Genesis erzählt: 96 „Und es wandelte Henoch mit Gott, und man fand ihn nicht mehr, weil ihn Gott hinweggenommen hatte.“ Auch der Apostel sagt: 97 „Im Glauben wurde Henoch hinweggenommen, damit er den Tod nicht sehe.“ Von diesem Tode sagt der Herr im Evangelium: 98 „Wer da lebt und an mich glaubt, der wird ewig nicht sterben.“ Deßhalb müssen wir drängen, wenn wir die wahre Vollkommenheit erreichen wollen, damit, wie wir dem Leibe nach Eltern, Vaterland, Reichthum und Luft verlassen haben, wir Dieß alles auch dem Herzen nach darangeben und durch keine Begierde mehr zu dem, was wir verließen, zurückkehren. So heißt es von Jenen, welche von Moses aus Ägypten geführt worden, obwohl sie dem Körper nach nicht zurückkehrten, sie seien im Herzen dorthin zurückgegangen, da sie nämlich Gott verließen, der sie mit solcher Wundermacht herausgeführt hatte, und die zuvor verachteten Götzen Ägyptens verehrten, wie die Schrift erzählt: 99 „Und sie kehrten im Herzen nach Ägypten zurück, da sie zu Aaron sprachen: Mach uns Götter, die vor uns herziehen.“ — Wir wollen nicht in gleicher Weise verdammt werden wie Diese, die bei ihrem Aufenthalte in der Wüste, nachdem sie das himmlische Manna gegessen, doch wieder nach den von gemeiner Nützlichkeit und sogar von Lastern übelriechenden Speisen verlangten. Wir wollen nicht ihnen gleich zu murren scheinen: „Gut ging’s uns in Ägypten, wo wir bei Fleischtöpfen saßen und Zwiebel und Knoblauch hatten und Gurken und Melonen.“ 100 Obwohl nun dieser vorbildliche Zustand jenes Volkes vorübergegangen ist, so sehen wir ihn doch jetzt noch täglich in unserm Kreise und Berufe erfüllt. Denn Jeder, der nach seiner Weltentsagung wieder zu den alten Bestrebungen zurückkehrt und sich wieder von den vorigen Begierden locken läßt, sagt in That und Gedanken ganz Dasselbe wie Jene: Gut ging mir’s in Ägypten. Ich fürchte, daß deren eine so große Menge gefunden werden könnte, als damals unter Moses Abgefallene waren. Obwohl man nemlich beim Auszug aus Ägypten sechsmalhunderttausend Bewaffnete zählte, betraten doch von allen nur zwei das Land der Verheissung. Wir müssen also darnach jagen, daß wir von den Wenigen und gar Seltenen die Beispiele der Tugend nehmen, weil dem besagten Vorbild entsprechend auch im Evangelium Viele zwar berufen, Wenige aber auserwählt genannt werden. 101 Es wird uns also die körperliche Entsagung und die gleichsam örtliche Auswanderung aus Ägypten Nichts nützen, wenn wir die Entsagung des Herzens, welche höher und nützlicher ist, nicht gleichfalls zu behaupten vermochten. Denn von dieser genannten körperlichen Entsagung spricht so der Apostel: 102 „Wenn ich all’ mein Vermögen austheile zur Speisung der Armen und meinen Leib zum Verbrennen hingebe, aber die Liebe nicht habe, so nützt es mir Nichts.“ Das hätte der hl. Apostel nie gesagt, wenn er nicht im Geiste vorausgesehen hätte, daß Einige nach Vertheilung ihres ganzen Vermögens zur Ernährung der Armen doch zur evangelischen Vollkommenheit und zu dem steilen Gipfel der Liebe nicht gelangen könnten, weil sie nemlich die alten Laster und die Zuchtlosigkeit der Sitten, sei es unter der Herrschaft des Stolzes oder der Ungeduld, in ihren Herzen zurückbehalten und sich durchaus nicht davon zu reinigen suchen, so daß sie zu der Liebe Gottes, die niemals fällt, keineswegs gelangen. Solche stehen nun natürlich schon zu tief für diesen zweiten Grad der Entsagung und werden also viel weniger jenen dritten, der ohne Zweifel höher ist, erfassen. Erwäget aber auch das sorgfältiger im Geiste, daß er nicht einfach gesagt hat: „wenn ich mein Vermögen ausgetheilt habe;“ denn es könnte sonst scheinen, er habe vielleicht von einem Solchen geredet, der nicht einmal das evangelische Gebot erfülle und, wie einige Laue thun, überhaupt Etwas für sich zurückbehalten habe. Nein, er sagt: „wenn ich all’ mein Vermögen zur Speisung der Armen ausgetheilt habe,“ d. h. obwohl ich vollkommen diesen irdischen Reichthümern entsagt habe. Und dieser Entsagung fügt er noch etwas Größeres bei: „Und wenn ich meinen Leib zum Verbrennen hingegeben habe, die Liebe aber nicht besitze, so bin ich Nichts“; als hätte er mit andern Worten gesagt: „Wenn ich zur Speisung der Armen all mein Vermögen austheile, nach jenem evangelischen Gebote, welches sagt: „Wenn du vollkommen sein willst, so geh’, verkaufe Alles, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir;“ wenn ich also so entsagen würde, daß ich durchaus Nichts für mich zurückbehielte, und wenn ich dieser Austheilung das Märtyrerthum und die Verbrennung meines Leibes beifügen würde, so daß ich also meinen Leib für Christus hingeben würde, und ich wäre doch noch ungeduldig oder zornsüchtig oder neidisch und hochmüthig und rachsüchtig, oder ich würde suchen, was mein ist, und denken, was böse ist, oder ich würde nicht Alles, was man mir anthun kann, geduldig und gerne ertragen: so wird mich die Entsagung und Verbrennung des äußern Menschen Nichts nützen, wenn der innere sich noch in den alten Lastern wälzt. So hätte ich wohl im Eifer der ersten Bekehrung einfach die Güter dieser Welt verachtet, die ihrem Wesen nach weder gut noch böse, sondern gleichgiltig und, aber ich hätte nicht dafür gesorgt, die schädlichen Vermögen des lasterhaften Herzens ebenso wegzuwerfen und die göttliche Liebe zu erlangen, die geduldig, gütig, nicht eifersüchtig ist, sich nicht aufbläht, nicht aufgeregt wird, nicht verkehrt handelt, nicht das Ihre sucht und nicht Böses denkt, die Alles erträgt, Alles aushält und endlich ihren eifrigen Sucher nicht fallen läßt in der gefährlichen Lage der Sünde.
8. Von den eigenthümlichen Schätzen, in welchen die Schönheit oder die Häßlichkeit der Seele besteht.
Wir müssen uns also anhaltend bemühen, daß auch unser innerer Mensch den Vorrath an Lastern, den er in seinem frühern Wandel aufgehäuft hat, ganz abwerfe und so auseinanderreisse, was uns an Leib und Seele beständig anhängt und so recht unser Eigenthum ist, ja, was uns, wenn wir es nicht in diesem Leibesleben abthun und wegreissen, auch nach dem Tode noch stets begleiten wird. Denn wie die Tugenden, welche wir in dieser Lebenszeit erworben haben, oder gerade die Liebe, die ihre Quelle ist, wie sie ihren Liebhaber auch nach dem Ende dieses Lebens schön und herrlich machen: so senden die Laster den Geist gleichsam mit häßlichen Farben geschwärzt und befleckt in jenen ewigen Aufenthalt. Denn die Schönheit oder Häßlichkeit der Seele wird durch die Beschaffenheit der Tugenden oder Laster erzeugt. Eine gewisse von diesen angenommene Farbe macht jene entweder glänzend und schön, daß sie vom Propheten hören darf: „Es wird der König nach deiner Schönheit verlangen;“ oder aber schwarz, übelriechend, ungestalt, so daß sie selbst den Pesthauch ihres Geruches eingesteht und sagt: 103 „Faul sind geworden meine Wunden und vereitert ob meiner Thorheit.“ Der Herr selbst sagt zu ihr: „Warum ist nicht verbunden die Wunde der Tochter meines Volkes?“ 104 Also das sind unsere eigensten Reichthümer, die der Seele stets verbleiben, und die uns kein König und kein Feind geben oder nehmen kann! Das ist unser wirklicher Besitz, den nicht einmal der Tod von der Seele wird scheiden können, und durch dessen Hingabe wir zur Vollkommenheit gelangen können, wie uns sein Festhalten der Strafe des ewigen Todes überliefert.
9. Von der dreifachen Art der Reichthümer.
Auf dreifache Weise werden in der hl. Schrift die Reichthümer unterschieden, nemlich in böse, gute und mittlere (gleichgiltige). Böse sind die, von welchen es heißt: 105 „Die Reichen hatten Mangel und hungerten;“ und: 106 „Weh’ euch, ihr Reichen, weil ihr euren Trost empfangen habt!“ Diese Reichthümer von sich geworfen zu haben, ist also sehr große Vollkommenheit. Der Gegensatz hievon sind jene Armen, welche im Evangelium durch das