Verlorener Sohn. Brennan Manning
Читать онлайн книгу.sich von uns abgewendet.“
Er unterbrach sich, lächelte, obwohl in seinen Augen Traurigkeit lag, ließ seinen Blick über die Gemeinde schweifen. Etliche Köpfe waren geneigt, viele sahen aufmerksam zu ihm hin.
„Und deshalb: Strengen – wir – uns – mehr – an.“
Er endete, dehnte das Schweigen danach noch ein wenig aus und hob dann die Hand wie ein Dirigent. Er machte eine Faust und reckte sie ein paarmal, dann ließ er sie schwer auf das Holz des Pultes fallen. Er sah auf, über die Menge hin, und sagte: „Amen.“
Die Lichter gingen jetzt an, die Bildschirme hinter ihm verblassten, und er klickte weiter zur nächsten Seite auf seinem iPad.
„Schlagen Sie mit mir die Bibel auf, Matthäusevangelium, Kapitel zwei“, sagte er, und das Rascheln, mit dem man seiner Aufforderung folgte, klang durch den Raum wie Eschenlaub, das von einer heftigen Brise durchweht wird, dann wie das Tosen der Brandung am Ufer.
Fünf Schritte unter dem Podium zeigte ihm Danny Pierce in der ersten Reihe die hochgereckten Daumen. Das mussten sie mal hören, Boss.
Drei Plätze weiter blickte Sally Ramirez, seine schwarzäugige Assistentin, hoch und schenkte ihm ein warmes Lächeln. Jack nickte ihr kaum merklich zu und blickte dann wieder auf seine Notizen, bevor er aus dem Konzept kam, bevor seine Gedanken eine entschieden unfromme Richtung nehmen konnten.
O Mann, war sie sexy.
Heute war wieder Weihnachten, ein Jahr später, und alles war anders geworden.
Jack rekelte sich auf seiner Liege. Sally war zwar sein Untergang gewesen, aber er konnte ihr nicht böse sein. Sie sollte ein Buch schreiben, für den „Playboy“ posieren und das meiste aus den fünfzehn Minuten Ruhm herausschlagen, den sie zwar nicht gesucht hatte, den sie aber trotzdem zu bekommen schien.
Er konnte auch keinen Groll gegen Danny in sich entdecken. Ein Junge aus einer Kleinstadt wie Jack, aus dem er einen weiteren Großstadt-Star gemacht hatte, war Danny ein Werkzeug der Gemeindeältesten, nichts weiter. Er war das prominenteste Gesicht der Gemeinde nach ihm selbst und Tracy, und sie würden beide nicht wiederkommen. Die Ältesten brauchten Danny, brauchten irgendeine Art von Kontinuität, wenn sie die Gemeinde zusammenhalten wollten.
Sie brauchten Danny, damit er auf die Kanzel stieg und vielleicht sogar in Jacks Fußstapfen als Hauptpastor trat.
„Viel Glück dabei, Bruder“, murmelte Jack. Danny würde Glück brauchen, um auf diesem hohen Seil balancieren zu können.
Aber Jack fühlte sich elend. Er hatte sie enttäuscht. Hatte sie alle im Stich gelassen. Tracy. Alison. Danny. Vielleicht sogar Sally.
Bei diesem Gedanken zog er das Handy wieder hervor.
„Ruf Sally an“, sagte er.
„Verbinde mit Sally Ramirez’ Handy“, signalisierte sein Gerät und dann hörte er den Signalton, einmal, zweimal, dreimal. Ihre Botschaft.
„Hier ist Sally. Du weißt, was du zu tun hast.“
Er hatte gehofft …
Wer weiß. Wenn er diesen Gedanken zu Ende dachte, würde er eine ganze Menge mehr Verantwortung für seinen Schlamassel übernehmen müssen, als er momentan bereit war, zu übernehmen.
Aber er fühlte sich schlecht. Oder er würde es zumindest, wenn er nicht noch mehr von dem guten mexikanischen Tequila in sich hineinschüttete, und das rasch.
Jack schraubte die Flasche auf, nahm einen Schluck, schraubte sie wieder zu und stellte sie sacht neben sich auf den Fußboden. Über der Karibik stieg die Sonne höher und brannte jetzt heiß auf ihn herab. Er müsste sich etwas überziehen, oder er würde sich einen noch schlimmeren Sonnenbrand holen, als er schon hatte. Sogar die milde Wintersonne Mexikos war jetzt nach fünfzehn Jahren in Seattle zu viel für ihn.
Warum war er überhaupt hier?
Warum war er zum Schauplatz seines Verhängnisses zurückgekehrt?
Vielleicht hatte er gedacht, es würde etwas lösen, wenn er zurückkam. Vielleicht hatte er gehofft, hier würde niemand nach ihm suchen. Vielleicht hatte er gedacht, Sally würde auch kommen. Es spielte jetzt alles keine Rolle mehr.
Er war nie in Mexiko gewesen, bis zum letzten September. Und dann hatte Sally den Anstoß gegeben. Sie hatte jeden seiner Schritte auf diesem Weg begleitet.
Es war nicht seine Idee gewesen.
„Nichts davon war meine Idee“, murmelte er.
Er nahm sich noch einen Drink. Die Welt um ihn her versank in einem angenehmen Nebel. Es war besser, wenn er sich nicht erinnerte.
Vom Handy erklang sein Klingelton – die ersten Akkorde von Don Henleys Rocksong „Dirty Laundry“. Grotesk, wie passend das war, nachdem die Medien ihm in den letzten Wochen die Hölle heißgemacht hatten. Er musste den Klingelton ändern, falls er das Handy behielt, falls er sich überhaupt je wieder dazu entschloss, Anrufe zu beantworten. Aber wenigstens rief Sally jetzt endlich zurück, nachdem sie wochenlang verschwunden gewesen war.
Er hob das Handy ans Ohr. „Warum hast du dich nicht früher gemeldet?“, fragte Jack und bemühte sich, seiner Stimme den Ärger nicht anmerken zu lassen. Sie steckten beide in dieser Sache drin – oder zumindest sollte es so sein.
„Ich rufe immer am Weihnachtsmorgen an“, sagte die sanfte Männerstimme freundlich.
Sein Vater.
Er riss sich das Handy vom Ohr und starrte es ungläubig an.
„Jack“, sagte sein Vater, „ich bin nur …“
Jack legte auf und schmiss das Handy quer über den Balkon; sein Herz raste. Das wäre fast schiefgegangen. Er hob das Handy auf und überprüfte die letzten eingegangenen Anrufe – ja, das war die Nummer seines Vaters. Vor drei Jahren hatte er an Weihnachten einmal aus Versehen diese Nummer zurückgerufen, nachdem der alte Herr sich endlich ins digitale Zeitalter gewagt hatte.
Aber so viel zumindest war an den Worten seines Vaters wahr gewesen – er hatte in den letzten beiden Jahren immer zu Weihnachten angerufen.
Jack hatte jedes Mal ohne ein Wort aufgelegt. Vielleicht saßen sein Vater und Mary und dieser Trottel, ihr Freund Dennis, ja an Heiligabend zusammen vor „Kevin allein zu Haus“. Vielleicht regte sich die unsterbliche Hoffnung in seinem Vater, er müsse einfach nur anrufen und alles, was zwischen ihnen stand, würde sich in einem Augenblick vom Tisch wischen lassen.
Warum rief er heute an, an diesem Weihnachtstag, an dem die ganze Nation sich über seinen Skandal den Mund zerriss? Vermutlich sogar mit Schadenfreude. Jack hatte es seinem Vater nie recht machen können. Niemand konnte das. Egal, was Jack auch erreichte, wie gut er gepredigt, wie viele Menschen er unterstützt hatte – immer hörte er die Stimme seines Vaters, der kritisierte und von ihm Rechenschaft verlangte.
Sogar jetzt konnte er ihn hören. Manche Eltern sagten: „Gib dein Bestes.“
Tom Chisholm hatte immer gesagt: „Du kannst es besser.“
Okay, Dad, dachte Jack. Ich bin nicht nach Mexiko gekommen, um mein Leben zu vermasseln. Ich kam nicht hierher, um dich in Verlegenheit zu bringen. Ich kam aus guten Gründen. Ich dachte, ich täte das Richtige – bis ich nicht mehr das Richtige tat.
Das galt doch wenigstens, oder? Er hatte mehr Gutes getan als Dinge verbockt, oder? Grace Cathedral hatte Unsummen an Hilfsgeldern für Projekte in aller Welt aufgebracht. Jeden Sonntag hatte er dazu aufgerufen, Gutes zu tun (es gehörte zu seinem Zwölf-Schritte-Kurs über „Geistliches Wachstum“). Er lehrte seine Gemeinde Hingabe und sich selbst an Gott zu verschenken. Sollten die Kritiker doch nörgeln – über die großen Gebäude, die Fernsehshows, die Werbekampagnen, über sein Gehalt, das schließlich wohlverdient war. Es hatte keine Grace Cathedral gegeben, bis Jack sie gebaut hatte.
Er hatte in dieser Welt etliches Gute getan.
Jedes Jahr im August, wenn das Steuerjahr endete, wählte