Verlorener Sohn. Brennan Manning

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Verlorener Sohn - Brennan Manning


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ein Virus. Seine Facebook-Seite quoll über vor Hasstiraden und „Ich-hab’s-ja-gleich-gewusst“-Botschaften. Auf Twitter war „#Lügen-Jack“ der meistaufgerufene Tweet. Die Website der Gemeinde war entweder unter dem Ansturm von Aufrufen zusammengebrochen oder sie war gehackt worden – jedenfalls war sie tot. Drei der größten Nachrichtenfeeds hatten das Video aus Isla gepostet, und Jacks Telefon und Smartphone klingelten ununterbrochen. Innerhalb von zwanzig Minuten sprach er mit der „Seattle Times“, „CNN“, „Fox News“ und einem Lokalsender.

      „Wir geben derzeit keine Stellungnahme ab“, wiederholte er ein ums andere Mal, bis er schließlich seine Sekretärin anwies, keine bescheuerten Anrufe mehr durchzustellen.

      „Jawohl, Sir“, sagte sie spitz, als wäre er ein völlig Fremder.

      Noch nie in den fünf Jahren, die sie für ihn arbeitete, hatte Carly ihn „Sir“ genannt.

      Er wählte noch einmal Sallys Nummer. Sie mussten ihre Geschichte abstimmen; noch war es nicht unmöglich, das Ganze glaubhaft abzustreiten.

      Die Wahrheit würde – in diesem Fall – alles andere tun, als sie frei machen.

      Sie nahm immer noch nicht ab.

      Jack lief durch die Halle zu ihrem Büro. Es war dunkel, die Tür verschlossen, nichts wies darauf hin, dass sie heute überhaupt zur Arbeit gekommen war.

      „Bitte, Gott“, betete er. Noch immer war er nicht sicher, worum er eigentlich bitten wollte, aber er brauchte Hilfe, brauchte irgendetwas. Die Dinge gingen definitiv den Bach runter.

      Er musste nachdenken.

      Er zwang sich, ruhig zu atmen, die Anspannung auszuatmen.

      Drei Türen weiter hatte Danny sein Büro. Er klopfte, öffnete die Tür und trat ein.

      Dannys Augen waren rot, und für einen Moment sah er einfach zu Jack auf und sagte nichts. Als er sprach, klang er erschöpft. „Jack, was hast du getan?“

      Jack schnaubte verächtlich, eine Art Lachen. Er durchquerte den Raum und trat an den Schreibtisch.

      Danny sah zu ihm hoch. „Was an dieser ganzen Sache ist bitte komisch, Mann?“ Er streckte sich in seinem Stuhl. „Dass sich die Leute über Grace Cathedral das Maul zerreißen, weil unser Pastor sich mal privat austoben musste, auf der ‚Insel der Frauen‘? Dass die Leute den ‚Herzenspastor‘ jetzt den ‚Schmerzenspastor‘ nennen? Vermutlich.“ Er nickte. „Das ist schon ein Hammer.“ Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. „Oder dass ich der größte Idiot auf Gottes Erdboden war, weil ich an dich geglaubt habe?“

      Jack konnte nicht zuhören. Er musste die Ruhe bewahren. Er musste die Dinge im Griff behalten. „Das Ganze ist lächerlich“, sagte er. „Ein Irrtum. Ich habe schon Schlimmeres von der Kanzel herunter gestanden.“

      „Es ist kein ‚Irrtum‘“, erwiderte Danny und machte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. Er schüttelte den Kopf, lehnte sich kurz in seinem Stuhl zurück, dann wieder vor und stützte die Ellenbogen auf. „Ein Irrtum ist es, wenn du, sagen wir, jemandem aus Versehen falsche Instruktionen gibst, weil du nicht genau weißt, was du willst. Dies hier ist schlimmer. Okay, ich hab schon gehört, wie du auf der Kanzel Fehler eingestanden hast: ‚Ich habe gesündigt‘, hast du uns erzählt. ‚Ich bin nicht vollkommen.‘“

      Danny unterbrach sich und biss sich auf die Lippen, als bereite es ihm Schmerz, weiterzureden. „Du erzählst uns ständig, wir müssten uns Gottes Liebe verdienen, wir müssten uns mehr anstrengen. Jetzt sieht es ganz so aus, als ob du selbst nicht tust, was du verkündest.“ Seine Stimme zitterte, als er sagte: „Nur ein Idiot folgt einem Führer, der nicht führt.“

      Jack spürte die Worte körperlich wie Schläge von einem Profiboxer. Er stand mit einem würgenden Gefühl auf; sein Gesicht war so gerötet wie auf dem Foto von der Isla Mujeres. „Du Blödmann“, schnaubte er. „Du rotznasiger Teenager. Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?“

      „Ich habe dir vertraut!“ Danny schrie es fast. Er stieß den Stuhl zurück und kam vor den Schreibtisch, um Jack anzustarren. „Ich habe dich geliebt wie meinen eigenen Vater, Jack. Ich habe dich verehrt. Als wärst du mein eigener Vater.“

      Danny hatte die Fäuste geballt und vorgestreckt, als brauche es nur noch die kleinste Provokation und er würde zuschlagen. Jack dachte kurz daran, ihm diese Provokation zu liefern – dann überfielen ihn Erinnerungen: Danny, immer hilfsbereit, immer umsichtig, immer unterstützend.

      Die beste Nummer zwei, die er sich hätte wünschen können.

      „Das hättest du nicht tun sollen“, sagte Jack schließlich. Sein Zorn fiel in sich zusammen und er fühlte sich erschöpft. „Mir so zu vertrauen. Auch ein Vater enttäuscht einen früher oder später.“

      Er ließ sich in einen Stuhl fallen, saß dort mit hängenden Schultern. Danny setzte sich wieder hinter den Schreibtisch.

      Schweigend saßen sie da.

      Jack dachte daran, wie er Danny direkt nach dem College eingestellt hatte, wie er ihn gefördert, ihm Predigen beigebracht und ihn schließlich zum Pastor von Grace Cathedral ordiniert hatte.

      Es waren schöne Erinnerungen. Erinnerungen, an die er nun nie wieder ohne Trauer würde denken können.

      Was hatte er getan?

      Bitte, Gott.

      Schließlich brach Jack das Schweigen. „Was soll jetzt passieren, Danny?“

      Danny starrte auf seinen Schreibtisch. „Die Ältesten treffen sich gerade. Martin hat mir gesagt, du hättest dich geweigert, ihnen die Entscheidung zu überlassen, wie mit dir verfahren wird. Geweigert, um Vergebung zu bitten.“

      Jack atmete tief ein und wieder aus. Es war zu spät. Nichts würde sich ändern. „Stimmt“, sagte er.

      „Dann sehen sie vermutlich gerade die Satzung durch und überlegen, was es bedeutet, wenn die Gemeinde dich feuert.“

      „Das ist meine Gemeinde“, sagte Jack und seine Stimme klang zuversichtlicher, als er sich fühlte. „Sie können mich nicht feuern.“

      „Es ist Gottes Gemeinde, Jack“, sagte Danny. Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und legte Jack eine Hand auf die Schulter. Er drückte einmal kräftig, dieser Junge, der ihm vertraut hatte, und das war schlimmer als jeder Schlag.

      Jack konnte es nicht ertragen; er würde kaputtgehen. Er würde alles tun, was sie verlangten, um zu verhindern, dass alles so endete.

      Dann verließ Danny den Raum und ließ Jack allein zurück. Schließlich, als deutlich war, dass Danny nicht wiederkommen würde, ging er zurück in sein eigenes Büro. Unterwegs begegnete er niemandem. Sallys Büro war immer noch leer, das Licht aus. Seine Sekretärin sah nicht auf, als er vorbeiging.

      Es war, als ob er bereits gegangen wäre.

      Und dabei blieb es. Bevor der Tag um war, hatte die Gemeinde ihren Gründer gefeuert, seine Frau informiert und ihr beträchtliche finanzielle Mittel angeboten, vorausgesetzt, sie ginge nicht ins Licht der Öffentlichkeit, das ziemlich grell geworden war und noch greller werden würde.

      Sie boten Sally einen großzügigen Vergleich an, der nicht öffentlich werden würde, wenn sie ebenfalls ohne Aufsehen gehen und die Dinge nicht durch Enthüllungsgeschichten oder – was Gott verhüten möge – eine Anklage wegen sexueller Belästigung noch schlimmer machen würde.

      Jack boten sie definitiv gar nichts an.

      Als Jack nach Hause kam, war das Haus dunkel. Seine Familie war fort. Er rief ein paar Leute an, von denen er wusste, dass sie noch mit ihm sprechen würden, aber die Anrufe brachten ihn nicht weiter. Niemand wusste, wohin Tracy und Alison verschwunden waren – zumindest sagte es ihm niemand –, und niemand hatte etwas anderes zu bieten als schlechte Nachrichten.

      Sheila, seine Agentin, teilte ihm mit, sein Verleger würde ihm unter Berufung auf den Paragrafen zu moralischem Fehlverhalten, den die meisten christlichen Verlage


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