Verlorener Sohn. Brennan Manning

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Verlorener Sohn - Brennan Manning


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hatte sie mit dem Golfwagen in ihr Hotel zurückgefahren, und Sally hatte ihn gestützt und im Wagen gehalten, wenn der Wagen durch Schlaglöcher oder über Bodenschwellen auf der gepflasterten Straße ruckelte.

      Irgendjemand hatte ihm in den zweiten Stock hinauf und in sein Zimmer geholfen.

      Und spät am nächsten Morgen war er aufgewacht – in hellem Sonnenschein und zum Geräusch der Brandung. Mit dröhnendem Kopf hatte er sich aufgesetzt – in einem Bett, das ein wenig zu verwühlt war, als dass es nur von einer Person benutzt sein konnte.

      Er zog seinen Pyjama an, tastete sich langsam ans Fenster, um es zu schließen – der Lärm der Wellen setzte seinen Kopf in Flammen. Dann klopfte es an der Tür. Sally öffnete, die Schlüsselkarte in der Hand. „Alles okay, Chef?“

      Er rieb sich die Stirn und blinzelte sie an. „Was … was ist eigentlich passiert?“

      „Ah, querido“, sagte sie und berührte seine Stirn sanft mit ihrem Zeigefinger – die Geste einer Geliebten, nicht die einer Angestellten. „Du hattest etwas mehr als einen Margarita.“ Sie seufzte, ließ ihre Hand fallen und wandte sich ein wenig ab. „Und ich ebenfalls.“

      Einen Moment lang glaubte er, er würde sich übergeben. Das hatte er nicht gewollt. Oder doch? „Bitte, Gott“, stöhnte er, obwohl er sich nicht sicher war, worum er eigentlich bitten wollte.

      Er begann Sally die Fragen zu stellen, die gestellt werden mussten. Was hatten sie getan? Und was sollten sie jetzt tun? Wie konnten sie die Dinge wieder in Ordnung bringen?

      Aber plötzlich sagte Sally: „Die Fluggesellschaft hat gerade angerufen. Ich habe meine Verbindungen spielen lassen und uns im nächsten Flieger, der abgeht, zwei Plätze in der ersten Klasse besorgt. Die Fähre geht in einer Stunde, bis dahin müssen wir gepackt haben.“

      „Okay“, sagte er. Er sah sie an. Sie blickte zurück. „Ich treffe dich unten in der Halle.“

      Sie nickte, durchquerte den Raum, schloss die Tür. Sein Kopf dröhnte noch immer und ihm war übel, aber er ging zurück ans Fenster und öffnete es. Der Salzgeruch und der Lärm der Brandung schlugen über ihm zusammen. Und nicht zum letzten Mal fragte er sich, wie es wäre, einfach ins Wasser da unten hineinzugehen und nicht mehr zurückzukommen, einfach an einen Ort hinabzusinken, wo es weder Gedanken noch Erinnerung gab.

      Während der Überfahrt nach Cancún sprachen sie nicht über das, was geschehen war; auch im Taxi nicht und auch nicht auf dem Rückflug nach Seattle.

      Und so hatten sie an diesem Sonntag, als er seiner Gemeinde von seiner Reise berichtete, nichts gesagt, und daher war auch nichts geschehen. Und wenn nichts geschehen war, gab es keinen Grund, warum jemand davon erfahren musste.

      Jedenfalls hatte er das geglaubt. Bis am nächsten Tag Martin Fox in Jacks Büro hineinmarschierte und die Tür hinter sich schloss. Martin war Investmentbanker in Seattle und gehörte zum Ältestenkreis von Grace Cathedral, dem Laiengremium, das die Gemeinde leitete.

      Jack selbst hatte Martin die Hände aufgelegt, als er ihn für den Dienst als Gemeindeleiter gesegnet hatte. Er hatte gedacht, sie stünden einander so nahe, wie es zwischen ihnen überhaupt nur möglich war. Aber jetzt stand Martin vor ihm und warf ihm grimmige Blicke zu, als hätten sie nicht gerade die beste Jahresbilanz in der Geschichte von Grace Cathedral vorgelegt, als wüchsen die Mitgliederzahlen und Initiativen in der Gemeinde nicht stetig, als wären sie nicht eine der bekanntesten Gemeinden im ganzen gottvergessenen Nordwesten.

      Plötzlich schoss Jack die Erinnerung an den Druck von Sallys Hand auf seiner Schulter durch die Erinnerung, an den Anblick des zerwühlten Bettes, und er fühlte, wie sich ihm der Magen zusammenzog vor etwas, das sich sehr stark wie Angst anfühlte.

      Martin setzte sich, ohne zu fragen, und redete, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. „Warum bist du nicht zu mir gekommen, als noch Zeit gewesen wäre, den Schaden etwas zu begrenzen?“

      Jack spürte wieder, wie sich sein Magen zusammenkrampfte, aber es gelang ihm, ein ahnungsloses Gesicht zu machen. Fragend zog er die Augenbrauen hoch. „Wovon redest du überhaupt?“

      „Ich hätte es wissen müssen“, sagte Martin. „Niemand kann die Maßstäbe, die du predigst, erfüllen. Du hast uns lächerlich gemacht, Jack. An den Stammtischen zerreißen sie sich den Mund über uns.“

      „Martin“, sagte Jack gleichmütig. „Wovon redest du?“

      „Wovon ich rede?“ Martin griff in die Tasche seines Tausend-Dollar-Anzugs, zog sein Smartphone heraus und hielt es Jack vor die Nase. „Das wurde heute getwittert. Irgendjemand hat auch Filmmaterial auf YouTube eingestellt. Jemand aus der Gemeinde hat es gesehen und mir zugeschickt.“

      „Martin …“, begann Jack und nahm das Smartphone.

      Dann sah er das Bild.

      Es war aus der Bar auf der Isla Mujeres. Jacks Gesicht war erhitzt und gerötet, er hielt eine Krabbe am Schwanz und schickte sich an, sie in den Mund zu stecken. Hinter ihm feuerte Sally ihn an. Ihre Hand lag auf seinem Rücken. Er war umgeben von etwa einem Dutzend ebenfalls angeheiterter Nachtschwärmer.

      Jack sah Martin an, der den Kopf schüttelte. „Jack, bist du das?“

      „Wer hat das gemacht?“, fragte Jack. Er atmete ruhig und gleichmäßig, während er Martin das Smartphone zurückgab.

      „Eine amerikanische Touristin. Kam gerade vorbei und fand, du sähest irgendwie bekannt aus. Das Video, das ihre Freundin gemacht hat, ist noch schlimmer. Du küsst Sally. Und nicht als ihr Pastor, das kannst du mir glauben.“ Martin kochte vor Empörung.

      „Das bin ich nicht“, sagte Jack, und er versuchte, es selbst zu glauben. „Es ist nichts dergleichen passiert.“

      „Ich habe mit den Ältesten gesprochen“, sagte Martin, als hätte Jack gar nichts gesagt. „Wir haben eine Entscheidung getroffen. Jack, wir wollen verzeihen. Schaden wieder heilen. Den Menschen zeigen, dass man sündigen kann und doch Vergebung verdient, wie du immer gesagt hast. Wenn du dich am Sonntag vor die Gemeinde stellst, berichtest, was du getan hast, und um Vergebung bittest, haben wir vielleicht eine Chance, dich zu retten.“ Er zuckte die Achseln.

      „Es würde eine Freistellung bedeuten. Vielleicht auch für länger. Wir würden entlastende Gründe finden – Sexsucht. Alkohol. Irgendwas.“

      „Ich bin nicht sexsüchtig. Und ich habe kein Alkoholproblem“, sagte Jack. Allein der Gedanke daran, vor seiner Gemeinde zu stehen und über das hier zu reden, ließ ihn erstarren. Seine Stimme bekam einen scharfen Ton. „Ich werde nichts bekennen, was ich nicht getan habe.“

      Martin sah ihn an. Die Trauer in seinem Blick sprach von mehr als nur der gegenwärtigen Situation. Er schien persönlich zutiefst von Jack enttäuscht zu sein.

      Genau wie Jacks Vater.

      Jack verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Martin über den polierten Schreibtisch hinweg an. „Vergiss es. Das mache ich nicht.“

      „Ich biete dir eine Chance, deinen Job zu retten, Jack“, sagte Martin. „Das einzig Richtige zu tun. Bitte, Jack, sei …“

      „Ihr könnt mir diese Gemeinde nicht wegnehmen“, murmelte Jack. „Ich hab sie aufgebaut – aus dem Nichts.“

      „Und genauso schnell kannst du sie auch ruinieren“, sagte Martin. „Wir haben schon ein paar Hundert E-Mails aus der Gemeinde bekommen. Die Leute fragen, was jetzt geschehen soll.“

      Jack erhob sich langsam, als wolle er das Ende des Gesprächs ankündigen. „Ihr könnt mir diese Gemeinde nicht wegnehmen“, wiederholte er.

      Martin stand auf und maß ihn mit seinen Blicken, bevor er seine Jacke zuknöpfte. Dann nickte er. „Tut mir leid, Jack. Es tut mir wirklich aufrichtig leid.“ Er schüttelte den Kopf, bot Jack aber keine Hand an.

      Dann drehte er sich um und verließ den Raum.

      Jack blieb einen Moment ruhig sitzen. Sein Herz raste. Er


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