Verlorener Sohn. Brennan Manning
Читать онлайн книгу.Jedes Jahr reiste er mit Kamerateams rund um die Welt, um seiner Gemeinde – und den Kritikern – zeigen zu können, was mit ihrem Geld geschah, wie es Menschen aus Bordellen in Thailand rettete, wie es sauberes Wasser in afrikanische Dörfer brachte.
In diesem Jahr hatte Sally vorgeschlagen, ob man nicht etwas gegen die Drogenkriminalität in Mexiko tun könne. Bei diesem Thema kannte sie sich leider gut aus. Ihr Vater war als unbeteiligter Zuschauer in einer Schießerei zwischen Drogengangs getötet worden; ihre Großeltern lebten noch in einer Stadt im Grenzbereich.
Jack hatte sie gebeten, der Gemeinde darüber zu berichten, wie Morde und Einschüchterung das Land, das sie liebte, für viele Mexikaner in einen Albtraum verwandelten. „Vielleicht werden wir das Problem nicht an der Wurzel packen können, es ist wohl zu komplex“, hatte sie gesagt, „aber die Frauen und Kinder, die ihre Männer und Väter verloren haben, brauchen dringend Hilfe.“ Was ihn schließlich überzeugt hatte, war, als er hörte, dass in den letzten vier Jahren mehr als achttausend Kinder allein in Ciudad Juárez zu Waisen geworden waren.
Sallys Worte hatten die Gemeinde ebenfalls bewegt. Man beschloss, die Witwen und Waisen des Drogenkriegs finanziell zu unterstützen und sich außerdem genauer mit der Problematik zu beschäftigen, um zu sehen, ob man noch mehr tun könnte.
Und so hatte Jack mit einigen Gemeindegliedern und einem Filmteam im Oktober einen einwöchigen Kurztrip nach Mexiko gemacht. Sie hatten ein Lager für Flüchtlinge vor dem Drogenkrieg besucht und ein Waisenhaus in Juárez, das Grace Cathedral jetzt unterstützte. Jack hatte an einer Konferenz mit Lokalpolitikern, Verwaltungsfachleuten und mexikanischen Kirchenvertretern teilgenommen, auf der es darum ging, was US-Amerikaner tun konnten, um zu helfen. Zum Abschluss der Woche hatten sie ein paar Filmaufnahmen in einem Dorf in Yucatán gemacht, wo es dank Cleanwater statt eines verseuchten Brunnens nun eine neue Pumpe gab. Es war eine großartige Gelegenheit für Aufnahmen – jede Menge lächelnde Kinder, die sich um Jack drängten, und etliche Filmmeter mit klarem, glitzerndem Wasser.
Es war geplant, dass sie an diesem Nachmittag von Cancún zurückfliegen sollten, aber die Fluggesellschaft hatte den Flug gestrichen, ebenso wie etliche andere – es gebe technische Probleme mit den Maschinen.
„Sie haben fünfzig 757er wegen Notfallreparaturen aus dem Verkehr gezogen“, berichtete Sally Jack, als sie vom Schalter der Fluggesellschaft am Flughafen in Cancún zurückkam. „Unsere auch. Wie es scheint, lösen sich während der Flüge Sitze vom Boden.“
„Tatsächlich?“ Jack nippte an seinem Starbucks Latte, den er gerade gekauft hatte. „Na, das ist jedenfalls keine gute Nachricht.“
„Ist wohl eine größere Geschichte“, sagte sie. „Der ganze Flugplan ist wegen der gestrichenen Flüge durcheinander. Sie sagen, über unsere Route über Dallas kriegen sie uns vor Sonntag nicht hier raus, nicht mal in der ersten Klasse, und bei den anderen Fluglinien gibt es bis dahin nur die Chance auf ein Stand-by-Ticket.“
„Zwei Tage? Und sie können uns keine andere Route anbieten? Ist das denn nicht ihr Fehler?“
„Ganz sicher. Na ja, vielleicht können sie uns heute Abend oder morgen noch über Miami oder Newark heimbringen.“ Ihr Gesicht war wenig hoffnungsvoll. „Was willst du jetzt machen?“
Jack grübelte über die Möglichkeit, über Nacht am Flughafen festzusitzen, über drei Anschlussflüge und achtzehn Stunden Flugzeit, über einen Flug zur Ostküste, um an die Westküste zu gelangen, und schüttelte schließlich den Kopf. Wenn man viel reist, wird das Reisen schwieriger, nicht leichter.
„Vergessen wir das“, sagte er. Plötzlich verlangte es ihn nach etwas Stärkerem als Kaffee. Er sog tief die Luft ein. Dann holte er sein Handy heraus, rief zu Hause an und berichtete Tracy, was los war.
Sie hatte schon von den lockeren Sitzen gehört. „Ich habe mich schon gefragt, ob dich das betrifft.“
„Danny predigt am Sonntag“, sagte Jack, „und ich habe vor Dienstag keine Termine. Ich kann also auf einen Direktflug warten. Sally wird das schon hinkriegen.“
„Wie immer“, sagte Tracy.
Er hatte nicht daran gedacht zu fragen, wie sie das meinte.
„Also“, sagte er, nachdem Sally ein Taxi zurück in die Stadt organisiert hatte, „wo ist für uns in Cancún der sicherste Ort?“
„Wir bleiben nicht in Cancún.“ Sally schenkte ihm dieses Lächeln, bei dem er sich nicht wohlfühlte. „Ich habe für uns Zimmer auf Isla Mujeres gebucht; mit der Fähre kommt man leicht hin. Cancún ist für amerikanische Touristen leidlich sicher, aber kürzlich hat es trotzdem gewaltsame Ausschreitungen gegeben. Die Insel ist viel ruhiger, sicherer, und die Strände sind wunderbar. Wir machen uns eine nette Zeit, bis ich uns einen Rückflug ergattert habe.“
„Nette Zeit? Ich hab keine Badehose dabei. Und ich bin so blass wie … ich weiß nicht.“ Er betrachtete seine bleiche Hautfarbe. „Wie etwas sehr, sehr Blasses.“
„Du kannst dich ja unter eine Palme setzen und Cocktails mit kleinen Schirmchen drin bestellen“, sagte sie. „Du verdienst doch mal eine kleine Belohnung, Jack.“ Sie fixierte ihn mit diesem traurigen kleinen Lächeln, das sie immer zeigte, wenn sie ihn zu überzeugen versuchte, er solle sich etwas Gutes tun. „Wenn es jemand verdient, sich ein wenig zu amüsieren, dann du.“
„Okay“, sagte er und hob die Hände. „Ich ergebe mich. Ich werd mir einen Margarita bestellen. Vielleicht ein paar Stunden am Strand. Wir sind in Mexiko, also lass uns Mexiko erleben.“ Er brachte von irgendwoher sogar ein winziges Lächeln zustande. „Ich meine, wie viel Ärger können wir schon kriegen, während wir hier auf Stand-by sind?“
Nicht viel.
Nur allen Ärger dieser Welt.
2.
Sie nahmen die Fähre über das klare blaue Wasser zur Isla Mujeres, wo Sally ihnen einen Golfwagen mietete, das Haupttransportmittel auf der Insel. Sie checkten in einer Hotelanlage am Nordende der Insel ein, nicht die teuerste, sagte sie ihm, aber die beste Unterkunft. Grandiose Aussicht auf die felsige Küste zur einen und weiße Sandstrände zur anderen Seite. Man war ganz für sich. Jedes ihrer Zimmer hatte einen geschützten Balkon, von dem aus man aufs Meer sah.
Am Abend fuhren sie zum Essen in die Stadt, und Jack fand sich dicht neben Sally an der Bar eines Open-Air-Restaurants auf der Avenida Hidalgo wieder.
„Jetzt werden wir uns diesen Margarita genehmigen“, sagte sie. „Und danach gibt’s Ceviche.“
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
Er sah ihre Hand an.
Er sah sie an.
Und das, so überlegte er später, war der Moment, in dem es passierte.
Der Moment, wo er alles hätte abbrechen können, wenn er es wirklich gewollt hätte.
Nachdem Jack seinen Margarita getrunken hatte, überredete Sally ihn noch zu einem Mezcal aus Merida, von dem der smarte junge Barkeeper sagte, er sei so glatt wie Glas. Der erste ging aufs Haus.
„Es ist das reinste Produkt der Agave“, erzählte sie ihm. „Es tut einem gut. In Mexiko haben wir ein Sprichwort: Para todo mal, mezcal, y para todo bien, también.“ Sie lachte über seine hochgezogenen Augenbrauen. „Für alles Schlechte Mezcal und für alles Gute ebenso.“
„Es wäre wohl unhöflich, das abzulehnen“, sagte er. Er fühlte sich schon ein wenig angeheitert nur von dem Margarita, nur von ihrem Lächeln, und er nahm das kleine Glas von ihr entgegen, trank und fühlte, wie er rot wurde. Ja, das war gut.
Er gestattete sich noch einen zweiten Schluck. Und dann einen dritten.
Bevor der Abend um war, fanden sie sich mitten in einer italienischen Hochzeitsgesellschaft wieder, der sie eifrig zuprosteten. Der größte Teil des Abends war in seiner Erinnerung verschwommen – oder fehlte schlicht ganz –, aber er wusste noch, dass sie alle Krabben