Gesammelte Werke. Фридрих Вильгельм Ðицше
Читать онлайн книгу.Herkunft, nicht langsam und unter Fehlgriffen gesucht und gefunden, sondern, als göttlichen Ursprungs, ganz, vollkommen, ohne Geschichte, ein Geschenk, ein Wunder, bloß mitgetheilt … Sodann die Tradition, das ist die Behauptung, daß das Gesetz bereits seit uralten Zeiten bestanden habe, daß es pietätlos, ein Verbrechen an den Vorfahren sei, es in Zweifel zu ziehn. Die Autorität des Gesetzes begründet sich mit den Thesen: Gott gab es, die Vorfahren lebten es. – Die höhere Vernunft einer solchen Procedur liegt in der Absicht, das Bewußtsein Schritt für Schritt von dem als richtig erkannten (das heißt durch eine ungeheure und scharf durchgesiebte Erfahrung bewiesenen) Leben zurückzudrängen: sodaß der vollkommne Automatismus des Instinkts erreicht wird, – diese Voraussetzung zu jeder Art Meisterschaft, zu jeder Art Vollkommenheit in der Kunst des Lebens. Ein Gesetzbuch nach Art des Manu aufstellen heißt einem Volke fürderhin zugestehn, Meister zu werden, vollkommen zu werden, – die höchste Kunst des Lebens zu ambitioniren. Dazu muß es unbewußt gemacht werden: dies der Zweck jeder heiligen Lüge. – Die Ordnung der Kasten, das oberste, das dominirende Gesetz, ist nur die Sanktion einer Natur-Ordnung, Natur-Gesetzlichkeit ersten Ranges, über die keine Willkür, keine »moderne Idee« Gewalt hat. Es treten in jeder gesunden Gesellschaft, sich gegenseitig bedingend, drei physiologisch verschieden-gravitirende Typen auseinander, von denen jeder seine eigne Hygiene, sein eignes Reich von Arbeit, seine eigne Art Vollkommenheits-Gefühl und Meisterschaft hat. Die Natur, nicht Manu, trennt die vorwiegend Geistigen, die vorwiegend Muskel- und Temperaments-Starken und die weder im Einen, noch im Andern ausgezeichneten Dritten, die Mittelmäßigen, von einander ab, – die letzteren als die große Zahl, die ersteren als die Auswahl. Die oberste Kaste – ich nenne sie die Wenigsten – hat als die vollkommne auch die Vorrechte der Wenigsten: dazu gehört es, das Glück, die Schönheit, die Güte auf Erden darzustellen. Nur die geistigsten Menschen haben die Erlaubniß zur Schönheit, zum Schönen: nur bei ihnen ist Güte nicht Schwäche. Pulchrum est paucorum hominum: das Gute ist ein Vorrecht. Nichts kann ihnen dagegen weniger zugestanden werden, als häßliche Manieren oder ein pessimistischer Blick, ein Auge, das verhäßlicht –, oder gar eine Entrüstung über den Gesammt-Aspekt der Dinge. Die Entrüstung ist das Vorrecht der Tschandala; der Pessimismus desgleichen. »Die Welt ist vollkommen – so redet der Instinkt der Geistigsten, der Ja-sagende Instinkt –: die Unvollkommenheit, das Unter-uns jeder Art, die Distanz, das Pathos der Distanz, der Tschandala selbst gehört noch zu dieser Vollkommenheit.« Die geistigsten Menschen, als die Stärksten, finden ihr Glück, worin Andre ihren Untergang finden würden: im Labyrinth, in der Härte gegen sich und Andre, im Versuch; ihre Lust ist die Selbstbezwingung: der Asketismus wird bei ihnen Natur, Bedürfniß, Instinkt. Die schwere Aufgabe gilt ihnen als Vorrecht; mit Lasten zu spielen, die Andre erdrücken, eine Erholung… Erkenntniß – eine Form des Asketismus. – Sie sind die ehrwürdigste Art Mensch: das schließt nicht aus, daß sie die heiterste, die liebenswürdigste sind. Sie herrschen, nicht weil sie wollen, sondern weil sie sind; es steht ihnen nicht frei, die Zweiten zu sein. – Die Zweiten: das sind die Wächter des Rechts, die Pfleger der Ordnung und der Sicherheit, das sind die vornehmen Krieger, das ist der König vor Allem als die höchste Formel von Krieger, Richter und Aufrechterhalter des Gesetzes. Die Zweiten sind die Exekutive der Geistigsten, das Nächste, was zu ihnen gehört, das was ihnen alles Grobe in der Arbeit des Herrschens abnimmt, – ihr Gefolge, ihre rechte Hand, ihre beste Schülerschaft. – In dem Allem, nochmals gesagt, ist Nichts von Willkür, Nichts »gemacht«; was anders ist, ist gemacht, – die Natur ist dann zu Schanden gemacht… Die Ordnung der Kasten, die Rangordnung, formulirt nur das oberste Gesetz des Lebens selbst; die Abscheidung der drei Typen ist nöthig zur Erhaltung der Gesellschaft, zur Ermöglichung höherer und höchster Typen, – die Ungleichheit der Rechte ist erst die Bedingung dafür, daß es überhaupt Rechte giebt, – Ein Recht ist ein Vorrecht. In seiner Art Sein hat Jeder auch sein Vorrecht. Unterschätzen wir die Vorrechte der Mittelmäßigen nicht. Das Leben nach der Höhe zu wird immer härter, – die Kälte nimmt zu, die Verantwortlichkeit nimmt zu. Eine hohe Cultur ist eine Pyramide: sie kann nur auf einem breiten Boden stehn, sie hat zu allererst eine stark und gesund consolidirte Mittelmäßigkeit zur Voraussetzung. Das Handwerk, der Handel, der Ackerbau, die Wissenschaft, der größte Theil der Kunst, der ganze Inbegriff der Berufstätigkeit mit Einem Wort, verträgt sich durchaus nur mit einem Mittelmaaß im Können und Begehren; dergleichen wäre deplacirt unter Ausnahmen, der dazugehörige Instinkt widerspräche sowohl dem Aristokratismus als dem Anarchismus. Daß man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu giebt es eine Naturbestimmung: nicht die Gesellschaft, die Art Glück, deren die Allermeisten bloß fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen. Für den Mittelmäßigen ist mittelmäßig sein ein Glück; die Meisterschaft in Einem, die Specialität ein natürlicher Instinkt. Es würde eines tieferen Geistes vollkommen unwürdig sein, in der Mittelmäßigkeit an sich schon einen Einwand zu sehn. Sie ist selbst die erste Notwendigkeit dafür, daß es Ausnahmen geben darf: eine hohe Cultur ist durch sie bedingt. Wenn der Ausnahme-Mensch gerade die Mittelmäßigen mit zarteren Fingern handhabt, als sich und seines Gleichen, so ist dies nicht bloß Höflichkeit des Herzens, – es ist einfach seine Pflicht … Wen hasse ich unter dem Gesindel von Heute am besten? Das Socialisten-Gesindel, die Tschandala-Apostel, die den Instinkt, die Lust, das Genügsamkeits-Gefühl des Arbeiters mit seinem kleinen Sein untergraben, – die ihn neidisch machen, die ihn Rache lehren … Das Unrecht liegt niemals in ungleichen Rechten, es liegt im Anspruch auf »gleiche« Rechte … Was ist schlecht? Aber ich sagte es schon: Alles, was aus Schwäche, aus Neid, aus Rache stammt. – Der Anarchist und der Christ sind Einer Herkunft …
*
58.
In der That, es macht einen Unterschied, zu welchem Zweck man lügt: ob man damit erhält oder zerstört. Man darf zwischen Christ und Anarchist eine vollkommne Gleichung aufstellen: ihr Zweck, ihr Instinkt geht nur auf Zerstörung. Den Beweis für diesen Satz hat man aus der Geschichte nur abzulesen: sie enthält ihn in entsetzlicher Deutlichkeit. Lernten wir eben eine religiöse Gesetzgebung kennen, deren Zweck war, die oberste Bedingung dafür, daß das Leben gedeiht, eine große Organisation der Gesellschaft zu »verewigen«, – das Christenthum hat seine Misston darin gefunden, mit eben einer solchen Organisation, weil in ihr das Leben gedieh, ein Ende zu machen. Dort sollte der Vernunft-Ertrag von langen Zeiten des Experiments und der Unsicherheit zum fernsten Nutzen angelegt und die Ernte so groß, so reichlich, so