Geld und Leben. Ewald Nowotny
Читать онлайн книгу.Deutschland und Österreich bedeutete die dramatische Inflation nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg den Zusammenbruch der wirtschaftlichen Ordnung und der bürgerlichen Welt. Aber auch hier gilt: Die dramatische Inflation war zwar ein monetäres Phänomen, sie hatte aber politische Ursachen. Zum einen war es im politischen Chaos der Nachkriegszeit nicht möglich, eine dem gesunkenen wirtschaftlichen Produktionspotenzial entsprechende Bewirtschaftung durchzusetzen. Vor allem aber waren die Regierungen in Deutschland und Österreich zur Sicherung der stets gefährdeten politischen Stabilität gezwungen, Gehälter und Sozialhilfen auszuzahlen, die weder durch Steuern, noch durch die Aufnahme von Schulden auf den Kapitalmärkten gedeckt waren.
Am deutlichsten sichtbar wurde das in der dramatischen Entwicklung, die der unmittelbare Auslöser für die schrankenlose Inflation in Deutschland wurde: Im Frühjahr 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet als Sanktion für Verzögerungen bei der Leistung der – unrealistisch hoch angesetzten – deutschen Reparationszahlungen. Als Gegenreaktion wurde im Ruhrgebiet der Generalstreik ausgerufen. Um diesen Generalstreik am Leben zu erhalten, erklärte sich die deutsche Reichsregierung bereit, die Löhne der Streikenden aus Staatsmitteln weiter zu zahlen. Dies konnte sie nur mittels Finanzierung durch die Notenbank – indem man „Geld druckte“ – und setzte so die sich selbst verstärkende Spirale des wirtschaftlichen Infernos in Gang. In der kollektiven Erinnerung der Deutschen ist nur dieses letztgenannte Phänomen präsent. Es ist aber wohl sinnvoll, auf die tieferen – politischen – Ursachen hinzuweisen.
Zu den politischen Aspekten gehört zweifellos auch der Umstand, dass es durch die massive Inflation nicht nur Verlierer, sondern auch Gewinner gab. Verlierer waren vor allem die bürgerlichen Kreise, deren Vermögen in Staatsanleihen – im Extremfall: Kriegsanleihen – angelegt war, Gewinner waren alle großen Schuldner, das heißt: neben dem Staat große Teile der Industrie und der Landwirtschaft. Es gab demnach zumindest zunächst durchaus politische Interessen gegen ein rasches Eindämmen der Inflation. Für die politisch ebenfalls gewichtigen bürgerlichen Kreise der Akademiker, der Journalisten, der Gewerbetreibenden bewirkte die massive Enteignung durch Inflation aber einen elementaren Vertrauensverlust in die junge Republik und das politische System der Demokratie. Dem entsprach die Forderung nach einer gegenüber dem politischen Geschehen völlig unabhängigen Notenbank mit absoluter Priorität auf Preisstabilität. Das Problem der Arbeitslosigkeit war für diese Teile der Bevölkerung von deutlich geringerer Bedeutung und daher von der Notenbank nicht zu berücksichtigen. Das Ideal konservativer Geldpolitik war der Goldstandard, der ja dann nach dem Ersten Weltkrieg sukzessive von den führenden Notenbanken der Welt wiedereingerichtet wurde. Wie in Kapitel 1 geschildert, hat dieses System wesentlich zur Vertiefung der Weltwirtschaftskrise beigetragen und wurde dann – meist zu spät – endgültig aufgegeben.
Die große Weltwirtschaftskrise ab 1929 traf demnach auf ein politisches Umfeld, das dieser Herausforderung weder wirtschaftswissenschaftlich, noch wirtschaftspolitisch gewachsen war. Hauptbetroffene waren in diesem Fall nicht das Bürgertum, sondern Arbeiter und kleine Angestellte. Der wirtschaftspolitische Gestaltungsspielraum war – sofern man ihn überhaupt nutzen wollte – durch die unter dem Eindruck der Hyperinflation geschaffenen, institutionellen Barrieren massiv eingeschränkt. Damit war die Politik der betroffenen Staaten von einer – teilweise gewollten – Unfähigkeit zu entscheidenden Gegenmaßnahmen bestimmt. In funktionierenden Demokratien wie in den USA und Skandinavien konnten die von der Krise betroffenen Gruppen einen geordneten – wenn auch vielfach bekämpften – politischen Wechsel erreichen. Deutschland und Österreich waren in mehrfacher Hinsicht nicht funktionierende und wirtschaftspolitisch vom Ausland abhängige Staaten. Diese Hilfslosigkeit führte zu einem massiven Vertrauensverlust in die demokratischen Parteien und letztlich – wie oben gezeigt – zum politischen Aufstieg des Nationalsozialismus.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die mit jedem Krieg verbundene Inflation durch rigorose Rationierungsmaßnahmen – mit freilich abnehmender Wirkung – zurückgestaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren dann die den Wiederaufbau tragenden Schichten vom Trauma der großen Inflation bestimmt, das Problem der Arbeitslosigkeit konnte aber durch die keynesianisch inspirierte Politik der Siegermächte entschärft und durch den nachfolgenden Wirtschaftsaufschwung über längere Zeit gelöst werden. Zentraler wirtschaftspolitischer Ankerpunkt war demnach die Schaffung einer unabhängigen Zentralbank mit der alleinigen Aufgabe der Sicherung der Preisstabilität. Das Trauma der großen Inflation sicherte – verstärkt durch kluge Öffentlichkeitsarbeit – der Deutschen Bundesbank eine geradezu mythische Stellung im Gefüge der Bundesrepublik. Damit entstand eine deutlich andere Akzentsetzung als etwa in der Welt der amerikanischen Politik. In Österreich errang die Nationalbank, die stärker sozialpartnerschaftlich gesteuert wurde, diesen „Mythos“ erst ab Mitte der 1970er-Jahre mit der Durchsetzung der „Hartwährungspolitik“, das heißt der Politik eines festen Wechselkurses zwischen Schilling und DM und damit der Aufgabe einer selbständigen Geldpolitik. Das „alte“, eigenständige, österreichische Nationalbank-Gesetz 1984 enthielt jedenfalls bis zur Anpassung an die EZB-Normen im Unterschied zur deutschen Gesetzgebung als Mandat der Notenbank neben der Verpflichtung zur Sicherung der Preisstabilität (§2 Abs. 3) auch die Verpflichtung, bei der Kreditpolitik den „volkswirtschaftlichen Erfordernissen Rechnung zu tragen“ (§2 Abs. 4), das heißt, auch die Entwicklung des Arbeitsmarktes zu berücksichtigen.
Bei den Bemühungen um die Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion war die zentrale Herausforderung die Frage, ob und wie Deutschland bereit war, die „mythische DM“ zugunsten des Euro aufzugeben. Letztlich wurde diese Frage gegen hinhaltenden Widerstand der Bundesbank politisch entschieden. Um den deutschen Befürchtungen entgegenzukommen, wurde aber jedenfalls die neue Europäische Zentralbank (EZB) bezüglich ihrer rechtlichen Grundlagen und ihrer wirtschaftspolitischen Orientierung nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank gestaltet. Das entsprechende Mandat im Art. 127 des EU-Vertrags (AEUV) lautet demnach: „Das vorrangige Ziel des ESZB (Europäisches System der Zentralbanken) ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten.“ Hinzugefügt ist der folgende Satz: „Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik der Union, um zur Verwirklichung der im Art. 3 festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizutragen.“ Zu diesen im Art. 3, EU-Vertrag, festgelegten Zielen gehören die Zielsetzungen „hohes Beschäftigungsniveau“, „beständiges, nicht inflationäres Wachstum“, aber auch entsprechende Aspekte des Umweltschutzes.
Als Notenbanker kann ich mit diesem Mandat gut leben und habe mich ihm immer verpflichtet gefühlt. Nicht zuletzt, weil Preisstabilität nicht nur effiziente wirtschaftliche Planbarkeit bedeutet, sondern auch soziale Risiken gerade für Bezieher kleinerer Einkommen mindern kann. Es hat in der Auslegung des gesetzlichen Mandats immer wieder Diskussionen – auch im EZB-Rat – gegeben, wobei die „orthodoxe“ Bundesbank-Politik dahin geht, dass Preisstabilität ohnedies die Voraussetzung für das Erreichen aller anderen genannten Ziele sei, der letzte Satz daher überflüssig sei.11 In der langen Frist ist dem wohl zuzustimmen, für die kürzere – und oft gerade beschäftigungspolitisch relevante – Sicht kann es freilich erforderlich sein, mit Augenmaß die gesamtwirtschaftlichen Folgen geldpolitischer Maßnahmen mit zu berücksichtigen. Noch viel mehr gilt dies bei Maßnahmen zur Sicherung der Finanzmarktstabilität, im Speziellen zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Banken- und Versicherungssektors einer Volkswirtschaft. Gefährlich ist es aber auch aus meiner Sicht, die Geldpolitik zu überlasten, sie zum „only game in town“ zu machen. Auf diese Problematik wird bei der Diskussion der EZB noch eingegangen werden.
8Gerhard Botz: Nationalismus in Wien: Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39. Mandelbaum, Wien 2008.
9Vgl. dazu: Tobias Straumann: 1931: Debt, Crisis and the Rise of Hitler. Oxford University Press, Oxford 2019.
10Felix Butschek: Österreichische Wirtschaftsgeschichte – Von der Antike bis zur Gegenwart. Böhlau, Wien 2011.
11Otmar