Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн книгу.lustig waren, herauf, »um den schlafenden Herrn Poulin zu sehen.« Madame drückte heute ein Auge zu; sie hatte in der Ecke wieder ein langes Gespräch mit Herrn Vasse, um die letzten Punkte einer Angelegenheit zu ordnen, die schon so gut wie abgemacht war.
Endlich um ein Uhr erklärten die beiden Ehemänner, Herr Tournevau und Herr Pimpesse, dass sie fort müssten und zahlen wollten. Madame nahm nur Geld für den Champagner an und rechnete noch dazu die Flasche nur mit sechs Franks, statt der gewöhnlichen zehn Franks. Und als man allseitig diese Großmut bewunderte, sagte sie mit lustigem Lachen:
»Es ist nicht alle Tage Kirchweih!«
*
Der Kirchhof Montmartre
Die fünf Freunde waren mit ihrem Diner zu Ende. Es waren fünf in den besten Jahren stehende Männer aus der guten Gesellschaft. Drei von ihnen waren verheiratet, während die zwei übrigen dem Junggesellenstande angehörten. Jeden Monat kamen sie einmal in dieser Weise zusammen, um die Erinnerung an ihre Jugendzeit zu feiern und nach dem heiteren Mahle noch unter freundschaftlichem Geplauder bis in die Morgenstunde hinein zu verweilen. Man sprach über dies und Jenes, über alles, was Paris beschäftigt und amüsiert; man trieb es hier nicht anders, wie in den meisten Pariser Salons, wo die Unterhaltung weiter Nichts ist, wie eine mündliche Wiedergabe dessen, was man in den Morgenblättern gelesen hat.
Einer dieser Lustigsten unter ihnen war Joseph de Bardon, ein Junggeselle, der das Pariser Leben so vollständig und vielseitig wie möglich auskostete. Er war weder ein Schwelger, noch ein Wüstling, aber er hatte den Wunsch, alles zu kennen, was das Leben bot; und diese Art von Genuss bereitete ihm eine wirkliche Freude. Seine vierzig Jahre erlaubten ihm das übrigens auch. Ein Weltmann im weitesten und besten Sinne des Wortes, besass er viel Witz ohne besondere Geistestiefe, viele Kenntnisse ohne gründliche Bildung, eine schnelle Auffassungsgabe ohne besonderen Hang zum Studium; er wusste das, was er bei allen seinen Abenteuern und Erlebnissen sah und beobachtete, so hübsch zu scherzhaften und gleichzeitig tiefsinnigen Anekdoten zu verwerten und seine Betrachtungen daran zu knüpfen, dass ihm in der ganzen Stadt der Ruf eines geistreichen Menschen gezollt wurde.
Bei ihren gemeinschaftlichen Diners war er stets der Festredner. Er hatte immer etwas in Bereitschaft und auf irgend eine neue Geschichte konnte man stets bei ihm zählen. Er gab sie zum Besten, ohne sich lange bitten zu lassen.
Eine Zigarrette rauchend, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, auf dem vor ihm ein halbvolles Glas »fine Champagne« stand, und mit Behagen den Duft einziehend, welcher sich aus dem aromatischen Tabak im Verein mit dem dampfenden Kaffee entwickelte, schien er ganz in sich gekehrt, wie es einzelne Personen an gewissen Orten und zu gewissen Zeiten zu sein pflegen.
Zwei Rauchwolken von sich blasend, sagte er dann nach einigen Minuten dieses brütenden Schweigens:
»Mir ist vor einiger Zeit eine seltsame Geschichte passiert.«
»Erzähle!« tönte es gleichzeitig aus aller Munde.
»Sehr gern«, entgegnete er. »Ihr wisst, dass ich sehr viel in Paris herumspaziere, wie die Raritätensammler, welche alle Schaufenster und Läden durchstöbern. Mich interessiert alles, die Leute, das Gedränge, kurz alles, was an mir vorübergeht und alles, was um mich herum vorgeht.
Schön! Eines Tages, Mitte September, verliess ich, angelockt durch das herrliche Wetter, meine Wohnung, und schlenderte zunächst planlos durch die Strassen. Man hat stets das unbestimmte Bedürfnis, irgend einer hübschen Dame seinen Besuch zu machen. Man durchstöbert im Geiste die ganze Reihe seiner Bekannten, vergleicht den Reiz der einen und das Interesse, welches sie uns einflösst, mit den Eigenschaften der Andren, und entscheidet sich schliesslich je nach der Laune, die man an diesem Tage gerade hat. Aber wenn die Sonne so herrlich scheint und die Luft so milde ist, vergeht einem manchmal die Lust zu jedem Besuche.
So ging es auch mir damals, und ich zündete mir eine Zigarre an, um stumpfsinnig dem äusseren Boulevard zuzustreben. Dann kam mir, als ich dort spazieren ging, plötzlich der Gedanke, den Kirchhof auf dem Montmartre zu besuchen.
Ich gehe gern auf einen Kirchhof; es bringt mir das eine gewisse melancholische Ruhe, der ich zuweilen bedarf. Und dann hat man ja auch so manchen guten Freund da, den man im Leben nicht wiedersieht. Warum sollte ich also nicht zuweilen dahin gehen?
Und gerade auf den Kirchhof Montmartre zieht mich immer eine alte Herzensgeschichte. Dort ruht eine Freundin von mir, die mich viel gequält und viel geliebt hat, ein reizendes kleines Frauchen, an die ich oft mit Verdruss, oft aber auch mit Bedauern … ja mit großem Bedauern … zurückdenke … Da gehe ich dann, um an ihrem Grabe zu träumen … Sie hat nun ausgelitten!
Ich liebe auch die Kirchhöfe, weil sie mir immer wie große dichtbevölkerte Städte vorkommen. Denken Sie nur, wie viel Tote auf diesem engen Raume bei einander liegen, denken Sie nur an all’ die Generationen von Parisern, die dort wohnen, für immer wohnen, richtige Höhlenbewohner, die in ihren kleinen Höhlen da eingeschlossen sind, in ihren kleinen durch einen Stein oder ein Kreuz bezeichneten Löchern hausen, während die Lebenden, diese Toren, so viel Raum einnehmen und so viel Geräusch von sich machen.
Ausserdem gibt es noch auf den Kirchhöfen ebenso interessante Denkmäler wie in den besten Museen. Das Grabmal Cavaignac’s gibt mir schon Stoff zum Nachdenken, ohne es mit dem Meisterwerke Jean Goujon’s vergleichen zu wollen: Dem Bilde Ludwigs de Brezé, der in der unterirdischen Kapelle der Kathedrale von Rouen begraben liegt. All’ unsere sogenannte moderne und realistische Kunstrichtung, meine Herren, stammt von daher. Dieser tote Ludwig de Brezé ist wahrheitsgetreuer, grausenerregender, in seiner Leblosigkeit verkörperter, durch den Tod verzerrter, als alle die erkünstelten Leichname, die man jetzt auf die Grabdenkmäler meiselt.
Aber auf dem Kirchhof Montmartre kann man auch noch das großartige Denkmal Baudin’s bewundern, ferner dasjenige Gauthier’s und dasjenige Mürger’s; auf letzterem bemerkte ich eines Tages einen armseligen Kranz aus verblichenen Immortellen. Wer mochte ihn gebracht haben? Vielleicht die letzte Grisette, die jetzt, alt und runzelig, irgendwo in der Nähe als Türschliesserin ihr Leben fristete. Das Ganze ist eine Statuette, das Werk Millet’s, an dem aber Schmutz und Vernachlässigung ihr Zerstörungswerk verrichten. O Jugendlied, o Mürger!
Hier war ich nun, auf dem Kirchhof Montmartre, und plötzlich